Der Bund, 3. November 2007
Ich träumte vom grossen Kino, damals, im Herbst 1987, und schrieb eifrig an einem Spielfilmdrehbuch. Dann aber wurde die Berner Reitschule besetzt und die Siedlung Zaffaraya auf dem Gaswerkareal brutal geräumt. Als Regisseur von «Zafferlot» (1986), einem kurzen und kruden Streifen über die Zerstörung des Kulturzentrums Zaff, war es für mich klar, mit meiner Super-8-Kamera auf die Strasse zurückzukehren. Auf was ich mich damit einliess, konnte ich nicht ahnen; dass beispielsweise das Zaffaraya schon ein Jahr nach dem gewaltigen Aufruhr reanimiert wurde, wusste damals niemand.
Was unter dem Arbeitstitel «Zafferlot 2» als filmischer Schnellschuss geplant war, wuchs schnell zu einem riesigen Berg von Bildern an; etliche Aufnahmen wie jene von der Schlacht ums Zaffaraya oder dem stundenlangen Krawall an der Fichendemo im März 1990 waren spektakulärer als alles, was man hierzulande in einem Spielfilm inszenieren könnte – kein Produzent würde es schaffen, Szenen mit so vielen Statisten und so viel Action zu finanzieren. Gut zweieinhalb Jahre dauerte es insgesamt, bis das fertig gestellt war, was am 1. August 1990 unter dem Titel «Berner beben» uraufgeführt und unter anderem im Kellerkino, an den Solothurner Filmtagen und im Schweizer Fernsehen gezeigt wurde.
Wie vieles aus dieser intensiven Zeit im Lauf der Zeit in Vergessenheit geraten ist, wurde mir erst vor kurzem bewusst. Im Hinblick auf das 20-Jahr-Jubiläum des Kulturzentrums Reitschule und dem 20. Jahrestag der Zaffaraya-Räumung kam ich im Frühling auf die Idee, «Berner beben» auf DVD herauszubringen, und schaute mir das Ding wieder einmal an. Die Wiederbegegnung mit dem eigenen Werk löste extrem widersprüchliche Gefühle aus. Die Grundidee, mit einer Selbstdarstellung der autonomen Jugendbewegung für Bern das zu schaffen, was «Züri brännt» für Zürich ist, und dabei ganz bewusst gegen viele Regeln traditioneller Dokumentarfilme zu verstossen, finde ich nach wie vor ebenso gut wie die kriegsfilmähnliche Ouvertüre mit den drastischsten Aufnahmen der tränengasvernebelten Tschernobyldemo 1987.
Befremdend aber wirken in der als Stadtindianerwestern aufgezogenen Chronik dramaturgische Umständlichkeiten wie das Kleben an Details, die schon damals ausserhalb von Bern niemanden interessierten, befremdend auch wirkt das Fehlen jeder Art von Zwischentönen: Vermittelt wird ein Weltbild, das nur «gute» Demonstranten und «böse» Politiker und Polizisten kennt. Und angesichts des Umstands, dass in der Zwischenzeit Marco Albisetti und Marc-Roland Peter verstorben sind, empfinde ich heute auch die Gnadenlosigkeit, mit der die damaligen Gemeinderäte durch den Kakao gezogen werden, als befremdend; es gab in jenen Tagen sowohl im Stadt- wie im Gemeinderat auch differenzierende Stimmen, aber die Intentionen von «Berner beben» liefen darauf hinaus, nur solche Zitate zu bringen, welche die Politiker in möglichst schlechtem Licht zeigen.
Tabuisiert werden auf der anderen Seite szeneninterne Konflikte. Die zum Teil in blutigen Prügeleien ausgetragenen Konflikte der Reitschule mit den Punks auf dem Vorplatz und Drogendealern im Wohntrakt wollte ich nicht in die Öffentlichkeit bringen. Dass die Gesprächspassagen in «Berner beben» nicht sonderlich tiefschürfend sind, ist einerseits technisch bedingt: Sie wurden mit einer Super-8-Direkttonkamera gedreht, es musste deshalb immer schon nach zweieinhalb Minuten eine neue Kassette eingelegt werden, was ausführliche Gespräche verunmöglichte. Andererseits gehört es zum Konzept, jenem Mythos entgegenzuwirken, die autonome Bewegung werde von bestimmten «Drahtziehern» geführt; es sollten deshalb möglichst viele Leute vor der Kamera auftreten und keine Informationen darüber vermittelt werden, wer in der Reitschule und im Zaffaraya zu den Wortführern, zu den aktiven Sympathisanten oder bloss zu den Gelegenheitsbesuchern gehörte.
Bedauerlich finde ich, dass in «Berner beben» die Jahre 1980 bis 1984 ausschliesslich mit Fotos und fremdem Videomaterial geschildert werden, weil ich erst spät den Griff zur Kamera wagte. Am 14. April 1982 etwa war ich einer von vielen Zeugen der Schliessung des AJZ Reitschule und freute mich, dass der erste Tränengaseinsatz der Polizei voll in die Hosen ging: Just in dem Moment, als die Granaten abgefeuert wurden, drehte sich der Wind und blies alle Gasrauchwolken zur bereits abgeriegelten Reitschule.
Das Publikum lachte, johlte und klatschte mit den Händen, als die hustenden Grenadiere eilig die Gasmasken aufsetzten. Dann aber wurde Tabula rasa gemacht und die ganze Schützenmatte flächendeckend mit Gasgranaten beschossen, um das Publikum zu vertreiben. Ich sehe diese Szenen noch so klar vor mir, als hätten sie sich gestern abgespielt, und möchte mich heute noch ohrfeigen, dass ich es damals verpasste, sie auf Film festzuhalten. Dass die Kamera an jenem Tag zu Hause blieb, hatte ein bisschen mit der damals noch bilderfeindlichen Philosophie der Bewegung der Unzufriedenen, mehr aber noch mit meiner eigenen Biografie zu tun. Als im Sommer 1980 in vielen Schweizer Städten autonome Jugendzentren gefordert wurden, war ich noch ein schüchternes Vorortskind aus Zollikofen, das gewalttätige Demonstrationen nur aus dem Fernsehen kannte und dessen rebellische Aktivitäten sich darin erschöpften, Physikstunden im Gymnasium Neufeld zu schwänzen, um stattdessen ins Kino zu gehen.
Als im Winter 1981 das provisorische AJZ in der Taubenstrasse besetzt wurde, war ich in der Rekrutenschule und lernte schiessen, sprengen und kiffen, und in das im Herbst 1981 eröffnete AJZ Reitschule ging ich nur deshalb, um Hasch zu suchen. Aus heutiger Sicht viel zu lange trieb ich mich in Wohngemeinschaften herum, in denen Erich Fromms «Haben oder Sein» dogmatisch verehrt wurde: Demonstrieren, Flugblätter verteilen oder nächtliches Plakatekleben galt als «Sein», das Filmen solcher Tätigkeiten aber war als «Haben» verpönt. Erst ab 1985 hielt ich mich konsequent an die Devise «Die Kamera ist mein Gewehr und ich schiesse zurück, wann immer irgendwo in der Stadt Gas und Gummischrot verschossen werden». Noch immer stolz bin ich darauf, dass «Berner beben» der erste Streifen mit einer Abblendung auf Tränengas ist: Bevor der Film ins Jahr 1980 zurückblendet, zeigt er eine Krawallszene, für die ich so lange ausharrte, bis im Bild nichts mehr ausser Gasrauchwolken zu sehen sind.
Die Idee, «Berner beben» für die DVD zu überarbeiten, habe ich schnell verworfen. Gerade weil das Werk dem Denken von gestern unterliegt, hat es den Status eines historischen Dokuments, das unverändert erhalten werden soll. Wie man die Geschichte der Reitschule und des Zaffaraya besser, spannender und vielschichtiger erzählen kann, will ich lieber in einem neuen Film zeigen.
An diesem Projekt um die Reitschule, die sich vom AJZ zu einem Kulturzentrum mit Leistungsvertrag und Telefonhotline zur Stadtpolizei entwickelte, und das Zaffaraya, das fast auf den Tag genau 20 Jahre nach der Räumung im Gaswerkareal wieder umziehen muss, wird seit einigen Monaten bereits mit Volldampf gearbeitet. Mit Bezug auf die Diskussionen um das Web 2.0 trägt es den Arbeitstitel «Zaffaraya 3.0».
Der Bund, 27. Juni 2000
Dem Kinobesuch folgt ein Spaziergang auf den Waisenhausplatz, wo in diesen Stunden ebenfalls Action angesagt ist. Das Hauptgebäude der Stadtpolizei wird von einer riesigen Demonstration belagert, beidseits der Kaserne sind Grenadiere in martialischer Kampfmontur aufmarschiert und immer wieder sind laute Pfiffe und das Zersplittern von Flaschen zu hören. In dieser Welt weiss der zuvor erwähnte Gymnasiast noch nicht, wo sein Platz ist. Er hat nicht einmal den Hauch einer Ahnung, dass er dereinst die bekanntesten Filme über die Berner Alternativbewegung drehen wird, und pendelt in seiner Schulklasse unentschlossen zwischen der so genannten Hippie-Fraktion, von der bekannt ist, dass sie mit den AJZ-Aktivisten mitmarschiert, und der grösseren Gruppe jener, die primär an Universitätsstudien, Offiziersschule und solider bürgerlicher Karriere interessiert sind.
Immerhin, etwas vom eigenen Unbehagen und dem aggressiven Klima jener Zeit ist zumindest indirekt spürbar im ersten Super-8-Kurzspielfilm, den der spätere Bewegungschronist mit Freunden aus der Schule drehte. Durchwegs grimmig in die Welt blickende junge Männer schiessen sich gegenseitig tot wegen eines kleinen Koffers, über dessen Inhalt man bis zum Schluss des Werks mit dem Titel «Last Game - Der Satan mischt die Karten» nichts erfährt. «Body count» und der Verschleiss an Knallfix und Ketchup sind enorm, es gibt mehr als eine Leiche pro Filmminute. In einem Berner Vorort wird eine Entführungsszene so realistisch inszeniert, dass die Dorfpolizei alarmiert wird, und Zollikofens Bahnhofpersonal hat auch nicht gerade Freude daran, dass ein gefesselter Jugendlicher auf rege benützte Eisenbahnschienen gelegt wird. Im Höhepunkt des Films wird ein Mercedes in die Luft gejagt; für diese Szene wurde ein Matchboxauto mit selber gemischtem Schwarzpulver gefüllt und flambiert.
Zehn Jahre später werden solche Kniffe nicht mehr nötig sein: Mit bis zum Hals klopfendem Herzen filmt der Bewegungschronist bei der Fichendemo aus kürzest möglicher Distanz, wie vor dem Bundeshaus Autos umgeworfen und in Brand gesteckt werden. Zu «Last Game» gibt es noch zu bemerken, dass der Film 200 Franken gekostet und über 600 Franken eingespielt hat; was das Verhältnis von Aufwand und Ertrag betrifft, stellt das von offiziellen Schweizer Filmhistorikern unterschlagene Werk selbst «Beresina», «Komiker» und andere einheimische Kassenhits mühelos in den Schatten.
Szene 2, Winter 1981: Keine AJZ-Besuche, keine Demonstrationen und Kino allenfalls an den Wochenenden: Das Vaterland hat gerufen, eine Infanterierekrutenschule will überstanden werden. In diesem Rahmen und nicht etwa in dem als rechtsfreien Raum und manchmal auch als Drogenhölle verschrienen AJZ lernt der Bewegungschronist allerlei legale und illegale Rauschmittel kennen. Vom abendlichen Massenbesäufnis mit Bier, Wein und Schnaps distanziert er sich bald und schliesst sich einem so genannten Kiffer-Clübli an, dem unter anderem auch ein gewisser Kuno Lauener angehört. Ausserdem wird er beglückt mit einer Sprengdienst genannten Spezialausbildung, was ihm regelmässig Bemerkungen darüber entlockt, dass er nun für eine allfällige Terroristenlaufbahn bestens gerüstet sei. Ernsthafte Gedanken in diese Richtung wurden aber nie erwogen.
Szene 3, 14. April 1982. Eine in der Nachbarschaft übel beleumdete Wohngemeinschaft wird aus ihrem trägen Dasein aufgeschreckt durch die Nachricht, das AJZ werde von der Polizei geräumt. Man geht hin und sieht als erstes, wie ein Tränengaseinsatz schief geht: Just in dem Moment, als die auf unerwünschte Zuschauerinnen und Zuschauer abgeschossenen Petarden auf den Boden prasseln, dreht sich der Wind und die Grenadiere bei der bereits verbarrikadierten Reitschule nesteln hektisch an ihren Seitentaschen, um sich Schutzmasken aufzusetzen.
Eine am gleichen Tag einberufene Bewegungsvollversammlung im Breitschtreff wird von der Polizei subito aufgelöst und - Zafferlot! - bei der Loeb-Ecke wird der in diesen aufwühlenden Stunden weder Steine schmeissende noch anderen verbotenen Tätigkeiten sich hingebende Autor dieser Zeilen hinterrücks von Polizisten angefallen und verprügelt.
Wenn er an diesem Tag doch bloss eine Kamera in der Hand gehabt hätte! Aber, bitte schön: Anders als bei der Zürcher Bewegung, bei der sozusagen jeder Furz auf Video festgehalten wurde, war die Filmerei in Bern nicht gefragt. Es galt, Erich Fromms «Haben oder Sein» nicht nur gelesen zu haben, sondern zu leben. Und Filmen, das wurde eben als Haben-Modus und damit als verwerflich eingestuft. Gegen diese dogma- tische Generallinie hatte der Einwand, es sei doch fragwürdig, die Geschichtsschreibung über Bewegungsaktivitäten den bürgerlichen Medien zu überlassen, vorderhand keine Chance. Der Ärger des Bewegungschronisten über die verpassten Bilder aber wurde um so grösser, als er immer häufiger feststellte, dass das mit dem «Haben oder Sein» keineswegs konsequent eingehalten wurde. So sassen nach Krawallnachmittagen die Beteiligten am Abend entweder in der Polizeikaserne oder aber vor dem TV-Bildschirm, um sich an den eigenen Heldentaten zu laben.
Um die Geschichtsschreibung in die eigenen Hände zu bekommen, bedurfte es einer List. 1983 wurde in einer Hausbesetzungsgruppe die Idee geboren, Michael Endes «Das Traumfresserchen» zu verfilmen. Das Grundkonzept sah vor, dass der Kostümüberbau der in einem entrückten Kitschambiente beginnenden Geschichte schrittweise abgebaut werden sollte, bis die Beteiligten zuletzt in ihrem authentischen Wirkungsfeld gesehen werden können. Das Ende der Dreharbeiten fiel in die Zeit des Protests gegen das erste Jugendschiessen im Kanton Bern. Fast die ganze schauspielerische Besetzung des Films «Märchen aus Schlummerland» machte mit bei den Rangeleien rund um das Schützenhaus Ostermundigen am 13. August 1983 und wurde dabei vorübergehend arg dezimiert, landeten doch mindestens vier der Hobbyschauspieler in Kastenwagen der Polizei.
Dieser Anlass durfte dank dem «Schlummerland»-Märchen mit offiziellem Bewegungssegen gefilmt werden, womit die sozusagen durch nichts umzubringende und bei 10 Grad unter Null ebenso zuverlässig wie bei 30 Grad im Schatten surrende Super-8-Kamera der Marke «Canon» erstmals ihrem Namen gerecht und als Waffe eingesetzt werden konnte. Damit war der Bann gebrochen, nun gab es kein Halten mehr und fortan hiess die Devise: Wann immer in Berns Gassen Gas und Gummi verschossen wird, gilt es, mit der «Canon» zurückzuschiessen.
Nachbemerkung: Aller in «Zafferlot» wie «Berner beben» offensichtlichen Freude an spektakulären Happenings zum Trotz hat sich der Autor dieser Filme nie zur «Macht aus dem Staat Gurkensalat»-Fraktion gezählt. Er vertrat immer die Ansicht: Macht aus dem real existierenden Gurkensalat endlich ein anständiges Gemeinwesen. Wer will, dass es vorwärts geht mit Umweltschutz, AKW-Stilllegung, Wirtschaftskriminellenbekämfung, Gerechtigkeit für die Dritte Welt, Rechtsgleichheit für Schwule und Behinderte, kann gar nicht anders, als griffige Gesetze und einen starken Staat zu fordern.
Serie 20 Jahre Jugendunruhen, Teil 8
Bisher erschienen: «Subito ein AJZ - ,u dr Wäut e Chlapf zum Gring'» (17. 5.); «Nieder mit dem Packeis, Freiheit für Grönland» (18. 5.); «Wie Max Rüdlinger als KGB-,Agent' agitierte» (30. 5.); «Die ,Geschichte der Signatur ,Pf9130'» (2. 6.); «Wie eine ans AJZ glaubte und daran fast zugrunde ging» (5. 6.); «Waren die Polizeieinsätze richtig, gopfridstutz?» (8. 6.); «Die Bewegung hat wichtige Spuren hinterlassen» (24. 6.). Dieser Beitrag bildet den Abschluss der Serie.
Die damals amtierenden Gemeinderäte werden dargestellt als Hampelmänner (Marco Albisetti), Kindlifresser (Werner Bircher) und Technokraten, denen von Zeit zu Zeit eine kühle Dusche gut tut; den denkwürdigen Moment, als der selten freundlich von der Reitschule sprechende Finanzdirektor Josef Bossart am Erlacherhoffest 1989 mit einem Kübel Wasser übergossen worden ist, hat kein Keystone-Fotograf und kein «Blick»-Reporter, sondern nur der Kameramann von «Berner beben» mitbekommen. Jean Cocteaus Satz, Filmen heisse dem Tod bei der Arbeit zuzuschauen, wurde zu einer schmerzhaften persönlichen Erfahrung: Vier der etwa drei Dutzend Interviewpartnerinnen und -partner starben vor der Fertigstellung des Films. Die Stadt Bern verweigerte einen Herstellungsbeitrag, 1991 aber wurde «Berner beben» vom Kanton Bern mit dem Filmpreis und von der Eidgenössischen Filmkommission mit einer Studienprämie ausgezeichnet.
Basler Zeitung, 4. September 1992
TV DRS: «Filmszene Schweiz: Berner beben»
Polizisten in Kampfmontur, qualmende Tränengaspetarden, ein Jugendlicher mit blutendem Auge, witzig verkleidete Demonstranten und schwarzvermummte radikale Autonome mit Steinen und Stöcken – eine Chronik der Berner Jugendbewegung ist auch eine Chronik massiver Polizeieinsätze, das zeigt Andreas Bergers Film «Berner beben» eindrücklich. Seine gesammelten Bilder und Töne, zusammengestellt 1990, herausgebracht 1991 an den Solothurner Filmtagen, waren nun im Rahmen der «Filmszene Schweiz» im Spätabendprogramm des Schweizer Fernsehens zu sehen. «Berner beben» ist ein Film aus der Berner Bewegung heraus und dennoch keine Nabelschau, ein Film, der die Demonstration, die Demo, als Teil einer Widerstandskultur setzt, die anderen Facetten des gelebten Anderssein aber nicht aus den Augen verliert.
Eigentlich handelt es sich um zwei Chroniken, die Andreas Berger zusammengestellt hat: jene des autonomen Hüttendorfes Zaffaraya und jene des Berner AJZs in der alten Reitschule. Die geschickte Trennung der beiden Ereignisstränge ermöglicht, mit Wiederholungen den Zeitraum von zehn Jahren besser zu überblicken und die Bewegung als Sammlung verschiedenster Menschen und Gruppen darzustellen. Als Verbindungsglied funktioniert das Verhalten von Stadtregierung und Polizei, die Verhandlungen mit der Regierung, die Berger gut dokumentiert darstellt und polemisch als Hinhalte- und Zermürbungstaktik anprangert. Die Polemik richtet sich natürlich vor allem gegen den damaligen Polizeidirektor Albisetti («Albiseppli»), dessen Polizeieinsätze auch ausserhalb von Bewegungskreisen als unverhältnismässig taxiert wurden.
Aber Berger zeichnet im Gegenzug kein Bild von einer bewegten Jugend in der Gartenlaubenidylle bei Friede, Freude, Eierkuchen. Ganz bewusst stellt er die Bewegung dar als Sammelbecken der verschiedensten Menschen, denen der Wunsch nach Freiraum und einem selbstbestimmten Leben gemeinsam ist, die aber untereinander genauso Streit, Auseinandersetzungen und Ausgrenzung erleben, diese aber auch austragen. Besonders gut zum Vorschein kommt dies in den kurzen Gesprächen, die Berger mit vielen Bewegten geführt und den Fragen folgend montiert hat. Hier wird das Kaleidoskop der verschiedensten Ängste, Wünsche und Lebensanschauungen sichtbar, hörbar, spürbar, das die Bewegung prägt. Ohne die inneren Widersprüche zu verkleistern, zeichnet damit «Berner beben» ein Selbstbild der Bewegung, das in seiner Parteilichkeit einen Kontrast setzt zur vorherrschenden Darstellung in den Medien.
Der Bund zur TV-Ausstrahlung am 2. September 1992
Das war nicht immer so. Und wann immer es nicht so war, war ein Mann mit der Kamera mit dabei: Andreas Berger hat die 80er Jahre aufgezeichnet, als minutiöser Chronist hat er viele Stunden Super-8-Material gesammelt. Entstanden ist daraus, in einem komplizierten Verdichtungsprozess, «Berner beben», eine Selbstdarstellung der Bewegten, die auch manch anderrn einiges zu sagen hat: Ausgezeichnet worden ist der Film, den das Schweizer Fernsehen heute leicht gekürzt zeigt, zum Beispiel mit dem Filmpreis des Kantons Bern und einer Studienprämie des Bundesamts für Kultur.
Andreas Berger stand als Beobachter ganz klar auf der einen Seite, auf derjenigen der Bewegten, die für Freiräume kämpften. Sie kommen, mit unterschiedlichsten Meinungen, Sprüchen oder auch Polemiken, in «Berner beben» zu Wort. Zu sehen sind auch all die Aktionen und Gegenaktionen jener Zeit, die Feste, die Polizeieinsätze, die Demonstrationen. Der Film wird so zu einem Stück Geschichte einer Stadt, zu einem Klimabild einer eigentlichen Gegenkultur. Eine Chronik, die der «Mann mit der Kamera» übrigens in den neunziger Jahren fortsetzen will.
Eine «Tränengasoper» hat Andreas Berger seinen Film einmal genannt. Es ist manchmal eine tragische Oper, manchmal eine komische auch. Denn bei aller Wut und aller Lust zur Selbstdarstellung lebt «Berner beben» auch vom Humor.
Es ist ruhig geworden in Bern. «Berner beben» ist auch ein Film gegen das Vergessen, einer mit einem offenen Ende.
Solothurner Zeitung, 25. Januar 1991
Wer die Ungeheuerlichkeiten unserer Zeit begreifen will, findet darin, einem Steinbruch gleich, eine Fülle von Material zur Förderung der Einsicht eines politischen Handlungsbedarfs. Einsicht zu einem Handlungsbedarf nicht im Sinne einer polizeistaatlichen Ordnungsfunktion, sondern im Sinne einer politischen Problemlösung mit und nötigenfalls auch gegen die Verantwortlichen und die Profiteure all jener untragbaren Zustände, welche sowohl am Rande als auch im Zentrum unserer Gesellschaft diese von innen und aussen auffressen. Denn der Film zeigt in schmerzlichen Bildern, wer zuerst da war, nämlich das Huhn oder das Ei ...
Der Film beginnt mit einer kolossalen Orgie der Zerstörung. Ganze, in Jahrzehnten harmonisch gewachsene, lebendige Quartiere werden dem Profitdenken geopfert und abgerissen. Schönste, mit LIebe selbst zum Detail geschaffene Häuser fallen einer lebensfeindlichen, kalten Ästhetik «moderner» Büroklötze und Wohnsilos zum Opfer. Dieses Abtöten von Lebensräumen, nicht von allen mit der gleichen Sensibilität wahrgenommen, trifft jene am härtesten, welche auch sonst am Rande der Konsumgesellschaft leben. Sie wehren sich denn auch am kompromisslosesten.
Der Bund, 19. September 1990
Der Berner Filmschaffende mit der Super-8-Kamera, der den Leserinnen und Lesern des «Bund» auch als genau beobachtender und klar beurteilender Filmkritiker (anb) bekannt ist, hat während zehn Jahren in unserer Stadt Bilder und Töne eingefangen und gesammelt, Bilder und Töne zu ihrer jüngsten Geschichte beziehungsweise zur Geschichte des bewegten Bern. Er masst sich nicht an, die Geschichte zu schreiben und damit dieses Jahrzehnt abzuschliessen, zu bilanzieren und einzuordnen, denn er ist mitbewegt und weiss nur zu gut, dass eine Bewegung nicht einfach abgebrochen werden kann. In dieser Hinsicht scheint mir Andreas Berger verwandt zu sein mit den Chronisten des Mittelalters oder zumindest mit jenen unter ihnen, die nicht aus der Perspektive der Schreibstube, sondern als Teilnehmende, als Mitziehende von Feldzügen und Schlachten, von Pest und Unwetter berichtet haben.
Das bewegte Bern ist nicht jenes des flutenden, privaten und öffentlichen Verkehrs, des regen und regeren Geschäftslebens, der pendelnden Beamten und des inflationären Kulturkonsums. Vielmehr ist es eine Stadt, in die – wie übrigens auch andernorts – eine neue Bewegung gekommen ist durch die Unzufriedenen. Ohne ihre Ziele im Stile des 68er philosophisch zu untermauern, ja möglicherweise sogar überhaupt ohne ganz klar definierbare Ziele hat die Bewegung der Unzufriedenen 1980 begonnen, ihre Kritik an der zementierten Ordnung und am genormten Leben in unserer Stadt und in unserem Lande demonstrativ und lautstark zu formulieren und Raum für alternative Lebensformen zu fordern.
Hier liegt das Epizentrums des Bernerbebens, von dem Andreas Berger berichtet, das aber getrennt geschrieben steht und demnach die bebenden Bernerinnen und Berner meint, die Demonstrantinnen und Demonstranten, die Polizeigrenadiere und die gespaltene, teils sympathisierende, teils angsterfüllte Bevölkerung. Stichworte sind das Autonome Jugendzentrum AJZ Reitschule, seine Schliessung, Bewachung und Wiedereröffnung beziehungsweise «Rückeroberung», das Begegnungszentrum Zaff, seine Schliessung, Zerstörung und Weiterentwicklung zum Freien Land Zaffaraya, die dazugehörenden Demonstrationen, aber auch jene andern für den Frieden und gegen die Fichen, und schliesslich die Menschen, die suchenden und die verteidigenden, die aufbrechenden und die abbrechenden, die demonstrierenden und die regierenden.
Andreas Berger war dabei, war Bewegter, Mitbewegter. Sein Standpunkt ist klar, aber er macht ihn nicht zum blinden Anwalt. Obwohl er seinen Film in erster Linie für die Bewegten gemacht hat, zeigt er auch jene Momente auf, da die Wut ihre Bewegung zu einem freieren, ungenormten und offeneren Zusammenleben überdeckt. Auf der andern Seite ist jedoch diese Tränengaswolke, die sich zwischen die Menschen schiebt, die einen in die Flucht schlägt und ein Gespräch verunmöglicht. Auf der andern Seite ist die Macht, sind die Schläge, die Festnahmen, die Urteile. Auf der andern Seite sind auch die Ratlosigkeit und die Unfähigkeit, mit Bewegungen umzugehen, Veränderungen als etwas Positives zu erkennen. Auf der andern Seite die «Scheinheiligkeit, die unerträgliche».
«Am meisten Angst in diesem Land macht mir die Angst vor der Andersartigkeit der Leute», sagt einer. Und Marie-Louise meint: «Und ich habe im Zaffaraya erlebt und erlebe das jedesmal in der Reithalle, dass es hier möglich ist, dass die verschiedenartigsten Menschen in Harmonie zusammenleben.» Die Tränengasoper «Berner beben» erschreckt durch die Bilder der Gewalt aus unserer Stadt, aber letztlich ist ihr Thema durch alle Tränen hindurch das Leben.
Andreas Berger ist wohl ein Chronist einer bewegten Zeit, aber sein Ziel ist nicht das Chaos, sondern ein Staat und eine Stadt, die als oberstes Ziel den Dienst am Leben aller haben, an einem lebenswerten Leben.
Chroniken sind nicht Konsumware. Andreas Berger hat kein Konsumprodukt gemacht. Sein Film wirkt manchmal lang, manchmal insistierend und irritierend, doch stets engagiert, wahr, persönlich, direkt.
Für die Bewegten gedreht, hat er auch all jenen etwas zu sagen, die ein Unwohlsein spüren in diesem Lande, und all jenen, die noch an Veränderung glauben – selbst in Bern.
Wochenzeitung, 14. September 1990
Was der Berner Filmer Andreas Berger («Zafferlot», 1986) in seinem zweiten Dokumentarfilm von unten mit dem Titel «Berner beben» präsentiert, ist die Geschichte der Berner Unruhen und Bewegungen von den 80er Jahren bis zur Schnüffelstaatdemo im März dieses Jahres. Mit den Mitteln der oral history und einer bewegten 8mm-Kamera hat sich Berger stets an die Ort des Geschehens begeben, um mit Bildern und Worten Zeugnis über die «unerträgliche Scheinheiligkeit des Super-GAU CH» abzulegen. Zeugnis über die Zerstörung von Wohnraum: Nach dem zehnten Niederriss eines besetzten und umkämpften Wohnhauses im Mattenhofquartier, im Villettenquartier hat sich das Filmpublikum an das Crescendo des Baggerzahns gewöhnt.
Zeugnis über die immer wieder gewagte und alsdann von der Polizei abgeklemmte Raumnahme: die Besetzung des Provisorischen AJZ (PAJZ), die Besetzung und Schleifung des Kulturzentrums «Zaff», der Aufbau des Zelt- und Hüttendorfs «Zaffaraya» und dessen Niedermachung. Zeugnis über die vielfältigen und auch heute noch originell wirkenden spontanen Widerstandsformen: freies Einklaufen im Grosswarenhaus «Loeb» während einer Weihnachtsdemo für die Freigabe der Reitschule, der Sprung einer Zaffaraya-Restdemo inklusive Transparente und exklusive Kleider ins Schwimmbecken des «Marzili»-Schwimmbades.
In dieser buchhalterisch genauen, fast pedantischen Rekonstruktion unserer Geschichte liegt die eigentliche Leistung von «Berner beben». Vieles war im Laufe der Zeit aus der kollektiven Erinnerung der Betroffenen herausgefallen, auch weil sich die tendenziell analyse- und theoriefeindliche 80er-Bewegung vor der Aufarbeitung ihrer eigenen Taten und Ansichten bis heute immer gescheut hat. Aus der zeitlichen Distanz von zehn Jahren und der heute verzettelten szeneninternen Meinungsbildung zum Teil nicht mehr nachvollziehbar sind auch die oft unbekümmert-naiven, aber eindeutigen Bekenntnisse der Unzufriedenheit, die Berger einzelnen Aktivistinnen und Aktivisten abgeluchst hat. «Was macht dir in der Schweiz am meisten Angst?» Antworten von Köpfen in Mao-Tschäppis, mit Punk-Frisuren, Kahlschlag vor einem an die realexistierende sozialistische Kunst erinnernden Hintergrund, Marke revolutionär: «Die Antimenschlichkeit», «Ruhe und Ordnung und Intoleranz», «der sinnlose Konsum, Geld», «Kopp» etc. Und gegen all diese Unbill der einmütig bestimmte Schlüsselsatz zum Glück: «Freiraum AJZ».
Berner Zeitung, 1. August 1990
Nun sitzt man also in einem dunklen Kinosaal und lässt sich all jene Ereignisse vor Augen führen, die vor kurzem noch Berns Strassen und Bevölkerung erschüttert und aufgerüttelt haben. Vor kurzem? Die gewaltsame Räumung des Hüttendorfes «Zaffaraya» im Gaswerkareal und die mittels Tränengas und Gummigeschossen aufgelöste Kundgebung zum Gedenken an die KKW-Katastrophe von Tschernobyl liegen erst drei Jahre zurück.
Seit zehn Jahren hat der 29-jährige Berner Filmemacher Andreas Berger die Entwicklung der Berner Jugendbewegung filmisch mitverfolgt und schon 1986 in seinem Film «Zafferlot» dokumentiert. Eine Fülle an Bildmaterial hat er in all den Jahren zusammengetragen, mit seiner Super-8-Kamera unzählige Demonstrationen gefilmt, den Abbruch von Liegenschaften im Mattenhofquartier oder in der Villette aufgezeichnet, für deren Erhaltung sich die Berner Bewegten ebenso eingesetzt haben wie für das Zaffaraya oder für die Reitschule als ein kulturelles Begegnungszentrum.
Aus der Fülle an Bildmaterial ist nun eine zweistündige, auf 16mm-Format aufgeblasene Kinofassung entstanden, eine engagierte und ehrlich-parteiische Aufarbeitung der Ereignisse aus der Sicht eines Bewegten, ein Stück aktueller filmischer Geschichtsschreibung von unten. Erschreckend, wie sich die Bilder in Andreas Bergers «Berner beben» immer wieder gleichen, die Tränengasschlachten sich wie ein Schleier über den Film legen, Kampfbilder, vor denen wir uns schützen möchten wie vor den täglichen Tagesschauberichten von Kriegsschauplätzen, hätten sie sich nicht in unseren Strassen ereignet.
Bilder von Räumungen besetzter Häuser im Mattenhof oder an der Freiburgstrasse rufen in Erinnerung, wie viel Berner Lebensraum in den vergangenen Jahren zerstört wurde und wie vergeblich alle Versuche der Bewegung waren, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
Berger dokumentiert aber auch die kreative Kraft und die Energie, die von grosen Teilen der Bewegung ausgingen und sich immer wieder neue Ausdrucksformen suchten wie im Zaffaraya und später in der Reithalle. «Zaffaraya bedeutete für mich eine Suche nach neuen Formen unserer Kultur und den Versuch, irgendwie freiheitlicher zusammenleben zu können», fasst eine junge Frau im Film – wohl stellvertretend für viele – ihre Gefühle zusammen. Andere haben das nie begriffen oder verstehen wollen. Bergers Film verbirgt denn auch nicht die Wut und Enttäuschung der Bewegten gegenüber der ohnmächtigen, weil gewaltsamen, Hilflosigkeit des Berner Stadtrats.
Der Film «Berner beben», der u.a. durch die Filmförderung von Bund und Kanton, nicht aber von der Stadt Bern finanziell unterstützt wurde, ist kein beschaulicher Beitrag zum Berner 800-Jahr-Jubiläum, er hilft nicht mit, Gräben zuzuschütten. Er verweist unversöhnlich auf ein Kapitel aktuellster Berner Geschichte, das noch nicht zu Ende geschrieben ist.
Berner Woche, 1. August 1990
Es fällt bald auf: die Kamera steht nicht dort, wo sie sonst meistens steht auf den Bildern, die die Medien verbreiten, nicht zwischen Polizisten durch auf Demonstranten zielt sie, sondern hält den Gegenschuss (so heisst es in der Fachsprache der Filmer) fest. Aus der Sicht derer, die auf die Strasse gehen oder sich ihre Freiräume sonst wie zu erkämpfen suchen, hat Andreas Berger seinen Film realisiert, ganz direkt und in übertragenem Sinn.
«Berner beben» heisst der für die Kinoauswertung nun auf 16mm aufgeblasene S-8-Film, der mit minimalstem Budget während eines Jahrzehnts entstanden ist und die Geschichte der Berner Bewegung und ihrer Orte in den Achtziger Jahren noch einmal aufarbeitet. So, wie der Autor erzählt, ist dies Geschichte, die sich mehrmals wiederholt. Um Eroberungen geht es immer wieder, um die Eroberung eines Ortes, an dem es sich anders leben lässt, ungebundener, wilder, sinnlicher. Und um den Verlust dieser Orte geht es, um die Vertreibung derer, die sie beleben. Um Hoffnung und um enttäuschte Hoffnung. Um Träume und zerstörte Träume. Die Namen dieser Orte: zum Beispiel Zaff, später Zaffaraya, zum Beispiel Reitschule.
Eine Tränengasoper nennt Andreas Berger den Film. Und das Tränengas ist denn auch der eine rote Faden. Richtig aufdringlich – und dies ist wohl durchaus Absicht – werden die Bilder der verrauchten Strasse und Plätze der Stadt im Lauf des rund zweistündigen Films. Das muss erschütternd sein, wenn jemand die vergangenen zehn Jahre in dieser Stadt vor allem so erlebt hat. Aus der Sicht derer, die da kämpfen (also auch aus der Sicht des Films) hat das aber etwas beinahe Alltägliches.
Ein anderer roter Faden, der nicht unbedingt Konzept war, sondern sich so ergeben hat, ist die Ausdauer derer, die in diesen Situationen der Hoffnungslosigkeit nicht aufgaben, nicht locker liessen und nicht locker lassen. Ihr Widerstand erheischt Respekt, selbst dann, wenn man vielleicht nicht durchwegs sich solidarisch erklären kann mit dieser Bewegung der Unzufriedenen.
In Kreisen, die anders denken als die (Selbst-)Darsteller des «Berner beben», wird es der Film nicht einfach haben. Als einseitig wird er abgetan werden. Und das ist er auch: unausgewogen, vorwärtsgetrieben von der Wut. Doch genau dies ist auch seine Qualität: dass er nicht «objektiv» berichtet, sondern mit grosser Anteilnahme erzählt, dass er ein Film ist, den die Ereignisse der Strasse geschrieben haben.
«Berner beben» ist Geschichtsschreibung von unten – und von dort sieht eben vieles ganz anders aus. Da sind die Feindbilder sehr schnell fixiert, da ist die offizielle Politik der Stadt von vornherein Gurkensalat. Da ist von Krieg die Rede und die, die davon reden, wollen damit nicht einfach billig Stimmung machen, sondern empfinden das, was sie erlebt haben, auch als eine Art Krieg, als Überlebenskampf. Das mag hart klingen und manchem übertrieben erscheinen, zeigt andererseits aber mit aller Deutlichkeit, wie tief der Riss ist zwischen den einen und den anderen in dieser Stadt, zwischen denen, die sich in der Reitschule gut fühlen, und denen, die diese am liebsten abgerissen sähen.
«Berner beben» ist ein unversöhnlicher Film. Deswegen ist er aber nicht etwa ein schlechter Film. Nur ein unbequemer. Und einer, der ehrlich ist. Und dies zählt im heutigen Kinobetrieb eigentlich am meisten.
Zoom, 19/90
Anfangs der Achtzigerjahre blickte die Welt mit Erstaunen und hämischer Schadenfreude auf den kleinen Musterstaat Schweiz. Eine jugendliche Bewegung der Unzufriedenen meldete sich auf der Insel des Wohlstands und der Stabilität zu Wort und zog aufbegehrend durch die Strasse der Städte; ein – nicht wie 1968 von einer ausserparlamentarischen Opposition mit theoretischen Modellen untermauerter – Protest artikulierte sich gegen erstickendes Ordnungsdenken und ein allen Experimenten abholdes, genormtes Leben. Mit untrüglichem Gespür wurde auf die Kehrseite von Wohlstand und Stabilität gewiesen: Angst vor Veränderung und stures Beharren auf scheinbar Bewährtem.
In Zürich markierten im Herbst 1980 die Opernhauskrawalle gegen eine mit Millionen subventionierte Elitekultur das Startsignal für eine Bewegung, die sich im Laufe der Achtzigerjahre in verschiedensten Organisationsformen, etwa gegen Wohnungsnot und Bodenspekulation, formierte und für autonome, selbstverwaltete Begegnungs- und Kulturzentren einsetzte.
Der Kollektivfilm «Züri brännt» (1980) und Pius Morgers «Zwischen Betonfahrten» (1981) waren erste Dokumente, die eine filmische Selbstdarstellung der Unzufriedenen mit einem Manifest gegen die «unerträgliche Scheinheiligkeit des Super-GAU CH» (Zitat aus «Berner beben») verbanden.
Auch in der Stadt Bern setzt 1980 ein anfänglich schwelendes Feuer ein, das sich – vor allem angeheizt durch das «Freie Land Zaffaraya», das im November 1987 mit einem massiven Polizeieinsatz gestürmt und dann dem Erdboden gleichgemacht wurde – zu einer lodernden Flamme entwickelte. Der Berner Filmkritiker (u.a. auch für «Zoom») und Filmemacher Andreas Berger hat während annähernd zehn Jahren mit einer Super-8-Kamera «Bilder und Töne zur Geschichte des bewegten Bern 1980 -1990» (so der Untertitel des Films) gesammelt. Eine Chronik ist entstanden, die vom provisorischen AJZ an der Taubenstrasse 1981 über das AJZ in der Reithalle, dem kurzlebigen Begegnungszentrum «Zaff» bis zur Geschichte des «Freien Landes Zaffaraya» die Geschichte dieses Widerstands in der Stadt Bern minutiös rekonstruiert.
(Bergers 1985 entstandener Film «Zafferlot» dokumentierte die Geschichte des Begegnungszentrums «Zaff» bis zum Abriss des Gebäudes im Sommer 1985 und ist im Kontext von «Berner beben» eine kleine – wenn auch wichtige – Episode der Berner Chronik.)
Andreas Berger hat diese Langzeitbeobachtung als Mitbewegter angestellt. Seine anwaltschaftliche Doppelrolle als Aktivist und Chronist verhehlt er im Film nicht: Doch das wichtige zeitgeschichtliche Dokument wider das – von offizieller Seite kräftig geförderte – Vergessen, betreibt weder eine buchhalterische Bilanzierung von Siegen und Niederlagen noch eine verklärende Denkmalsetzung. Andreas Berger und sein Cutter Christof Schertenleib sahen sich mit einer immensen Materialfülle (15 Stunden Bild- und 12 Stunden Tonmaterial) konfrontiert. Der Schneidetisch wurde – nach Jahren der Anhäufung von Bild- und Tonmaterialien – zur eigentlichen Geburtsstätte des knapp zweistündigen, auf 16mm aufgeblasenen Dokumentarfilms. Die Reduktion auf das Wesentliche und die Verbindung der zahllosen Episoden zu einer strigenten, auch für Unbeteiligte nachvollziehbaren Geschichte war die äusserst schwierig zu bewältigende Aufgabe.
Der Film stellt sich ohne Einschränkungen hinter die radikalen Forderungen der Bewegung. Mit dem Fetisch Ausgewogenheit hat Andreas Berger nichts im Sinn. In «Berner beben» hält man vergeblich Ausschau nach den obligaten Jugendpsychologen und Sozialarbeitern, die Aussagen und Forderungen von Bewegten analysieren und relativieren. Trotz seines einseitigen Standpunkts ist «Berner beben» aber kein polemischer, auf die Kunstgriffe der agitatorischen Montage zurückgreifender Film geworden. Das hat er gar nicht nötig, aus dem einfachen Grund, weil die Bilder für sich sprechen. Die Aufarbeitung eines Stücks Berner Geschichte, das mehr denn je in die Gegenwart hineinreicht (am 2. Dezember befinden die Berner Stimmbürger über eine von der Nationalen Aktion lancierte Initiative, die den Abbruch des «Schandflecks» Reithalle vorsieht), führt dem Zuschauer bis zum – bewusst kalkulierten – Überdruss die Wiederkehr der immer gleichen Konfrontations-Rituale an den Demonstrationen vor Augen. Die Bilder im Films wiederholen sich, die Tränengasoper zeigt immer die gleichen Ikonen der Gewalt und macht auf erschreckende Weise deutlich, dass in den letzten zehn Jahren, trotz Verhandlungen und Konzessionen, trotz Annäherungen und Dialogbereitschaft letztlich die unversöhnlichen Fronten auf der Strasse das ehrlichste, weil die Verhältnisse am treffendsten illustrierende Bild geblieben sind.
Die Chronik der Ereignisse wird von zahlreichen Interviews durchbrochen; dreissig bis vierzig Leute kommen zu den Stichworten «Reithalle» und «Zaffaraya» zu Wort, äussern sich eingangs zur Frage, was ihnen in diesem Land Angst mache und formulieren am Ende des Films ihre Neujahrswünsche für das Jahr 1989. Die Entscheidung, sich nicht auf einige schillernde Exponenten der Bewegung zu beschränken und so – wie in Richard Dindos «Dani, Michi, Renato und Max» (1987) – starke Identifikationsfiguren zu schaffen, ist einer der Hauptvorzüge von «Berner beben». So wird es möglich, einen Eindruck vom breiten Spektrum der Meinungen und Utopien zu vermitteln; diese Gegeninformationen aus dem Innern der Bewegung verdichten sich über die Selbstdarstellung von Individuen zu einem Klimabild einer widersprüchlichen (was sonst?) und lebendigen Gegenkultur. Zwei Welten in einem Land: dieser Eindruck wurde im Vorfeld der Abstimmung über die Abschaffung der Armee allenthalben konstatiert – dieser Eindruck gilt auch für «Berner beben». Andreas Berger hat den Standpunkt der anderen Schweiz eingenommen und eine Geschichtsschreibung von unten, von der Strasse aus betrieben. Ein regelmässig ins Bild kommender Hund, der aus dem Off den Gang der Ereignisse mit bitterer Ironie und Galgenhumor kommentiert, veranschaulicht diese Haltung auf witzige Weise. Es erinnert an die antiken Kyniker und deren Prototypen Diogenes in der Tonne; dessen «hündische» Sicht der Dinge hat sich Andreas Bergers Kommentator zu eigen gemacht, um nicht vor der Arroganz der Macht und der eigenen Ohnmacht kapitulieren zu müssen.
«Berner beben» ist – es sei nochmals gesagt – ein parteilicher Film, der für sich in Anspruch nimmt, uns alle – und nicht nur die Bewegten – aufzufordern, aus dem «real exisiterenden Gurkensalat endlich einen anständigen Staat zu machen» (Andreas Berger). Nächstes Jahr wird Bern das 800-Jahre-Jubiläum der Stadtgründung feiern. Ob das offizielle Bern sich im Festrausch dieses unbequemen Beitrags zur Stadtgeschichte erinnern wird?