Der BundSurprise


Der Bund, Oktober 2015


Immer noch im selben Film

 

Satter kann Bonusmaterial nicht sein: Auf der DVD von «Welcome to Hell», die morgen erscheint, gibts einen
ganz neuen Film von Andreas Berger.


Als vor einem Jahr «Welcome to Hell» fertig war, legte Andreas Berger die Filmkamera nicht zur Seite. Die Geschichte der Reitschule, die ging ja schliesslich weiter. Und schliesslich wird der Berner Filmemacher nicht von ungefähr als «Chronist der Berner Bewegung » bezeichnet. So hielt Berger in den folgenden Monaten fest, was ihm zwischen Bundesplatz und Reitschule vor die Linse kam – Polizisten, die gegen Staatsabbau demonstrierten, Missen in Bikinis und solche, die dagegen protestierten, ein Kiss-in vor dem Regionalgefängnis oder die x-te Stadtratsdebatte über die Reitschule.
Klar, dass dieses Material nicht einfach auf einer Festplatte verstauben sollte; und als sich Berger im Frühjahr an die Produktion der DVD von «Welcome to Hell» machte, war ebenso klar, was als Bonusmaterial hinzugefügt werden soll: «Warum Altes aufwärmen, wenn es neues Material gibt», sagt Berger. Und montierte in den letzten Monaten den Film «Come to Hell … and See the Paradise» als satten, 82-minütigen Bonus. In einer halsbrecherischen Crowdfunding-Aktion und mit Bettelbriefen, die ihm selbst ein wenig zuwider waren, sammelte Berger innert Kürze das nötige Geld, um den neuen Film im Tonstudio professionell bearbeiten zu lassen. Und so gibts dieses Wochenende also nicht nur eine DVD-Taufe, sondern auch eine Filmpremiere und sogar eine kleine Retrospektive von Bergers früheren Filmen «Berner beben» und «Zaffaraya 3.0».
«Viele Junge kennen die älteren Filme gar nicht mehr», erzählt Berger. Doch das Interesse daran sei durchaus vorhanden. «Ich habe kürzlich herausgefunden, dass jemand ‹Berner beben› integral auf Youtube gestellt hat. Er wurde dort 10 000 Mal angeklickt.» Auch Bergers Interesse an dem, was sich rund um die Reitschule bewegt, wird nicht nachlassen. Am vergangenen Abendspaziergang-Wochenende war er jedenfalls wieder mit der Kamera unterwegs. (reg)


nach oben




Surprise, Oktober 2015


«lrgendwie findet man immer einen Konsens»

 

Von Florian Blumer


Kaum einer kennt das alternative Berner Kulturzentrum Reitschule besser als der Dokumentarfilmer Andreas Berger. Seit den Achtzigerjahren hält er die Geschehnisse in der Berner Alternativszene mit der Kamera fest. «Welcome to Hell» heisst sein letztes Jahr erschienenes Filmporträt über die Reitschule, soeben hat er den Zusatzfilm «Come to Hell and see the Paradise» fertiggestellt. Im Interview gewährt er einen Blick hinter die Kulissen und sagt, wann hier das Paradies zu finden ist und wann die Hölle.


Wer in Bern mit dem Zug einfährt, dem bietet sich ein einzigartiges Bild. Das gilt für diejenigen, die links zum Fenster hinausschauen und denen sich das Postkartenbild von Aare, Altstadt und Berner Alpen präsentiert. Vielleicht noch mehr gilt dies aber für diejenigen, die den Blick nach rechts richten: Dort erblickt man nach Überquerung der Aare als erstes ein grosses, altes, fast ganzflächig bespraytes Gebäude, mit gut sichtbar platzierten politischen Parolen: die altehrwürdige Reitschule.
Ob man darin wie viele rechtskonservative Politiker den «Schandfleck von Bern» sieht oder einen bunten Freiraum an zentraler Lage – einzigartig ist die Berner Reitschule auf jeden Fall. In ihrer Bedeutung und der Einbettung in die Stadt ist die Reitschule als alternatives Zentrum über die Schweiz hinaus eine Ausnahmeerscheinung. 300 bis 500 «Reitschülerinnen und Reitschüler», wie sie sich selber nennen, verkehren dort, 20 bis 30 Gruppen organisieren Theater, Kino, Restaurant, Frauenchor, Druckerei, Flohmarkt und so weiter. Die Reitschule ist ein Polit-, Begegnungs- und Kulturzentrum, ein basisdemokratisch organisierter Freiraum, der aber von der Stadt unterstützt wird und mit ihr einen Leistungsvertrag vereinbart hat. Sie ist Konzert- und Party-Hotspot in Bern, Zentrum alternativer Kultur und Restaurant und Bar ohne Konsumationszwang, aber auch Ausgangspunkt unbewilligter Demos und Rückzugsort, wenn diese in Scharmützel mit der Polizei ausarten.
Seit ihren Anfängen als Autonomes Jugendzentrum (AJZ) 1981 ist Andreas «Ändu» Berger mit seiner Kamera dabei. Der heute 54-jährige Vater dreier Kinder ist so etwas wie der inoffizielle Chronist der Reitschule. ln mehreren Filmen, darunter «Berner beben» von 1990, dokumentierte er die Jugendunruhen der Achtzigerjahre und die Entwicklung der Reitschule. Dieser Tage erscheint «Welcome to Hell», sein letztes Jahr fertig gestelltes, fast zweistündiges Porträt der Reitschule als DVD, zusammen mit «Come to Hell and see the Paradise» – ein Update, das die Ereignisse von den grossen Sommer-Kulturfesten bis zu den Protesten gegen die Miss-Schweiz-Wahl und die damit verbundenen Auseinandersetzungen mit der Polizei nachzeichnet.
Wir haben Andreas Berger im Restaurant «Sous le Pont» in der Reitschule zum Mittagessen getroffen und wollten von ihm wissen, wie es hinter den Kulissen der meistgehassten und meistgeliebten Institution Berns aussieht.

Herr Berger, Ihr neuster Film heisst «Come to Hell and see the Paradise». Kann man von hier aus tatsächlich das Paradies sehen?
Es ist das Paradies – wenn es so ist wie jetzt gerade. Leute aus verschiedenen Milieus sitzen friedlich zusammen und diskutieren. Es hat hier x Leute, zu denen ich mich hätte dazusetzen können. Die Reitschule ist eben nicht nur der Vorplatz mit den Randalierern, der das Bild in den Medien prägt. Sie ist auch eine Art Familie.

Sie zeigen aber auch die andere Seite: An Demos ist man im Film mittendrin im Schwarzen Block, wo Flaschen und Petarden geworfen werden. Autonome genauso wie Polizisten geben Ihnen vor der Kamera bereitwillig Auskunft, auch die Polizei lässt sich in Aktion von Ihnen filmen, zum Beispiel bei Personenkontrollen. Wie kommt es, dass beide Seiten Sie so nahe an sich heranlassen?
Die Autonomen akzeptieren, dass der mittlerweile etwas ältere Herr, der ich bin, das schon seit ein paar Jahren macht, und sie wissen, dass man ihm vertrauen kann. Und bei der Polizei arbeite ich regelmässig mit dem Mediendienst zusammen. Ich habe gemerkt: Mit denen kann man auch reden. Es gibt übrigens auch Reitschüler, die kein Problem damit haben, sich mit der Polizei an einen Tisch zu setzen und über Sicherheitsprobleme zu diskutieren. Das wäre in den wilden Achtzigerjahren undenkbar gewesen. Es ist ja geradezu rührend, wenn, wie im Film zu sehen, Manuel Willi, Chef der Regionalpolizei Bern, von Reitschülern ein Buch «Freiheit und Anarchie» geschenkt bekommt und dieses in seinen Ferien auch tatsächlich liest. Er hat sich sogar mit dem Leuchtstift Stellen markiert (lacht) – also wirklich versucht nachzuvollziehen, was in den Köpfen auf der anderen Seite vorgeht.

Sie beobachten die Polizeiarbeit in der Reitschule und an Demos seit über 30 Jahren. Wie hat sie sich in dieser Zeit verändert?
In den frühen Achtzigerjahren, wenn unbewilligte Demos aufgelöst wurden, warst du mit langen Haaren oder Punkerlook bis sieben, acht Uhr abends Freiwild. Da fuhr die Polizei mit ihren Kastenwagen durch die Stadt und sammelte alles ein, was irgendwie nach Bewegung und Hippie aussah. Unverhältnismässige Einsätze gibt es zwar immer noch – die Toleranz gegenüber unbewilligten Demos ist aber deutlich grösser geworden. Was sich auch verändert hat: Früher war vielleicht das Schweizer Fernsehen vor Ort und dazu noch ein paar Bewegungsfilmer mit VHS-Kameras. Heute hat jeder zweite Demonstrant sein Smartphone dabei, und wenn die Polizei zuschlägt, wird drauflosgefilmt Ich würde sagen: Die Polizei ist kooperativer geworden. Aber es ist gut, wenn man ihr ein bisschen auf die Finger schaut.

War das damals Ihre Motivation, mit dem Filmen anzufangen?
Ja. Zuerst war das in linken Kreisen noch verpönt. Als im Sommer 1985 das Kulturzentrum Zaff geräumt und noch am gleichen Tag abgerissen wurde, waren sie jedoch froh, dass das jemand dokumentierte. Von da an hatte ich meine Rolle in der Bewegung. Zuerst hiess es noch: Eher von hinten und von Weitem filmen, aber das änderte sich mit der Zeit. Heute darf ich mit meiner Kamera auch in die Hinterräume der Reitschule.

Sie haben gesagt, die Reitschule sei eine Art Familie. Geht es in dieser Familie immer harmonisch zu und her?
Nein. Die verschiedenen Gruppen, die hier aktiv sind, haben das Heu längst nicht alle auf der gleichen Bühne. Aber das war schon immer so, auch in den Anfangszeiten 1981, 82, als die Reitschule noch im kleineren Rahmen als Alternatives Jugendzentrum (AJZ) betrieben wurde. Es gibt nicht DEN Reitschüler oder DIE Reitschülerin, das will ich in meinen Filmen zum Ausdruck bringen. So gibt es zum Beispiel die Veganer, die es komplett daneben finden, wenn ein ganzes Schwein am Spiess im Innenhof grilliert wird, und es gibt die Fleischfresser, die genau deswegen hierherkommen.

Wo verlaufen die grundsätzlichen Konfliktlinien in der Reitschule?
Ein bisschen einfach gesagt: Es gibt die, die hier primär Kultur machen wollen, und es gibt die, die hier Politik machen wollen. Im besten Fall findet man sich und macht etwas Gemeinsames. Ich finde aber schon bemerkenswert, dass es immer noch funktioniert mit der Basisdemokratie, mit all den Gruppen, die mit unterschiedlichen Mitteln an unterschiedliche Orte kommen wollen. Irgendwie findet man immer wieder zu einem Konsens.

Zwischen Schwein am Spiess und veganer Lebensweise kann es aber kaum einen Kompromiss geben.
Ja, aber sie arbeiten trotzdem zusammen. Und ganz Wurst, wer gerade in der Küche arbeitet: Wenn du willst, kannst du hier jeden Tag und zu jeder Mahlzeit vegan essen.

Was hat sich ausser den individuellen Differenzen noch aus der Anfangszeit erhalten?
Die Struktur. Die Reitschule war schon immer basisdemokratisch. Das wirkt manchmal etwas schwerfällig, aber wenn man die letzten Debatten im Berner Stadtrat über die Reitschule mitverfolgte, hatte man nicht das Gefühl, dass die parlamentarische Demokratie in irgendeiner Weise effizienter wäre (lacht). Ganz im Gegenteil: Ich habe das Gefühl, die Reitschul-Vollversammlungen, die VVs, sind viel besser strukturiert. Man lässt einander ausreden, während im Stadtrat gepöbelt wird wie an den sogenannten Brüllaffen-VVs in den Anfängen der Reitschule.

Wie funktioniert die Basisdemokratie in der Reitschule konkret?
Es sind mittlerweile gut eingespielte Handlungsabläufe, es gibt regelmässige Sitzungen in den einzelnen Arbeitsgruppen. Bestimmte Probleme werden in der Koordinationsgruppe besprochen oder in der Betriebsgruppe. An die VV müssen nur noch die grundsätzlichen Sachen. Aber man muss den Konsens finden, es kann hier nicht jeder einfach machen, was er will. Das heisst: Jeder kann machen, was er will, wenn er die Leute davon überzeugen kann, dass es eine gute Sache ist. Gewisse SVP-Stadträte warnen manchmal davor, dass militante Gruppen die Reitschule übernehmen könnten – das ist absolut undenkbar. Es gibt hier viel zu viele Leute, die da entgegenhalten würden.

SVP-Stadtrat Erich Hess hat diesen Sommer eine Initiative gegen die Reitschule lanciert, um der Reitschule den Geldhahn zuzudrehen – es ist bereits der dritte Anlauf vonseiten seiner Partei. Sie haben in Ihrer Arbeit auch regelmässig mit SVP-Politikern Kontakt. Was denken Sie, warum ist das für sie so ein zentrales Anliegen?
Das ist Politik für ihre Wahlklientel, Wagenplätze und Reitschule, das waren schon immer die Themen, mit denen sie ihren Wählern signalisieren konnten: Wir sind die Einzigen, die etwas dagegen tun, dass die Stadt verslumt. Ich sage Erich Hess von der SVP immer, die Initiativen seiner Partei seien super. Das gibt jedesmal einen riesigen Kreativitätsschub in der Reitschule und dimmt die innerbetrieblichen Differenzen herunter. Es gibt Bands, die extra Songs für die Abstimmung aufnehmen, es werden Kulturhappenings durchgeführt und so weiter. Und mit der gleichen Argumentation, die die SVP jeweils gegen die Reitschule bringt, könnte man sagen: Vom Wankdorf-Stadion gehen regelmässig Ausschreitungen aus, diesen Unruheherd sollte man endlich dichtmachen!
Es lässt sich aber nicht abstreiten, dass die gewaltsamen Demos in Bern eigentlich alle von der Reitschule ausgehen. Hier muss ich den Polizeikommandanten zitieren, der in «Welcome to Hell» sagt: Wir haben in Bern 200 bis 300 Demonstrationen pro Jahr, durchschnittlich 196 bis 296 davon sind friedlich. Man muss sich aber schon fragen, ob es verhältnismässig ist, wenn eine Anti-WEF-Demo aus der Reitschule schon nach 100 Metern von einem Polizeiaufgebot gestoppt wird, das doppelt so gross ist wie die Demo. Bei den Leuten, die verhaftet werden und das zum ersten Mal erleben, weckt dies zweierlei Reaktionen: Die einen sind eingeschüchtert, auch weil sie zu Hause Ärger mit den Eltern bekommen. Die anderen werden wütend. Das sind dann die, die Farbbeutel gegen den Polizeiposten werfen.

Sie haben eingangs gesagt, die Reitschule sei an Tagen wie heute das Paradies – wann ist sie die Hölle?
Die Hölle ist sie oft am Samstagabend, wenn unpolitisches Partyvolk in Massen hierher strömt. Ich habe dafür durchaus Verständnis: Hier können sie ungestört ihr mitgebrachtes Bier und andere Rauschmittel konsumieren, den Ghettoblaster auf voller Lautstärke laufen lassen. Aber die Abfallwüste, die sie hinterlassen, hat für mich gar nichts mehr mit alternativer Kultur zu tun – reitschulintern trennt man schön sauber den Abfall. Aber das Partyvolk kümmert sich weder um die Grundsätze der Reitschule noch um die Ideale. Es sind oft auch diejenigen, die sagen: Hurra, ein Streifenwagen, schmeissen wir dem ein Fläschchen nach, das darf man ja hier. Sie missbrauchen das Label Freiraum, um ihren Konsumismus durchzuziehen oder sich vor den Kollegen zu profilieren. Das ist halt die Kehrseite.

Bernhard Eicher, Stadtrat der FDP, behauptet in «Come to Hell and see the Paradise» anlässlich einer Ratsdebatte, dass in der Reitschule immer noch «die alte Grosspäpple» das Sagen hätten. Dabei lassen Sie im Film Junge um die 20 zu Wort kommen, die sich begeistert zeigen, wie sie sich in der Reitschule einbringen können.
Es ist schon so: Die Reitschule ist heute kein AJZ mehr, es hat verschiedene Generationen im Haus. Im Film sieht man beim Marsch gegen Monsanto zuerst eine Bewegungsfrau der ersten Stunde gegen Mansanto schimpfen und dann den Youngster, der sagt, dass er den Saatgutkonzern vernichten will – das ist der Enkel der Frau. Er gehört der dritten Generation an, die sich nun der Reitschule annähert. Die Reitschule ist ein Haus, das dauernd im Wandel ist. Es kommen dauernd Junge nach, die sich engagieren.

Einer der Protagonisten in «Welcome to Hell», schon seit Jahrzehnten in der Reitschul-Druckerei engagiert, sagt gegen Ende des Films, dass es in Bern einen Raum brauchen würde, in welchem die Jungen ihre eigene Idee von Freiraum realisieren könnten. Sehen Sie das auch so?
In «Come to Hell and see the Paradise» habe ich ja eine Umfrage gemacht, was man auf der Schützenmatte vor der Reitschule statt Parkplätzen machen sollte. Mein Traum wäre, dass man auf der anderen Seite der Eisenbahnbrücke zwischen Reitschule und Schützenmatte ein Spiegelbild der Reitschule aufstellen würde, wo konsequent U30 gilt. Dann könnte man auf dieser Seite ganz offiziell ein autonomes Altersheim einrichten, rollatorgängig und so weiter (lacht) . Das wäre mein Traum: eine zweite Reitschule, die von Grund auf von den Jungen aufgebaut wird. Wenn sie dann Tipps bräuchten, hätten sie ja nicht weit, um danach zu fragen.


nach oben