Berner Zeitung, 10. September 1994


Die Utopie in Zeiten der Unordnung in Bern


von Josef Bossart

In «Berner beben» (1990) war er der Chronist der Berner Jugendbewegung. In «Ruhe und Unordnung», seinem neuesten Film, porträtiert Andreas Berger Menschen, die sich in Bern politisch und sozial für eine lebenswertere Welt engagieren.


«Ein Aufruf zur Hoffnung ist ein Aufruf zum Widerstand», steht auf dem Transparent. Es wird von zwei jungen Leuten über Berns Kirchenfeldbrücke getragen. «Ruhe und Unordnung», der neue Dokumentarfilm des Berners Andreas Berger (33), endet nach 85 Minuten mit diesem Bild, festgehalten wie ein Merksatz in einer langen Schlusseinstellung. «Ruhe und Unordnung» ist ein Film über individuelle Ausgestaltungen widerständischen Lebens im Bern der neunziger Jahre. Drei Frauen und zwei Männer sprechen über sich und ihre politischen und sozialen Aktivitäten, über ihre individuellen und ihre gesellschaftlichen Träume: als Aufruf zur Hoffnung auf eine lebenswertere Welt.


Eine gespaltene Stadt

«Ruhe und Unordnung» führt gleichsam «Berner beben» (1990) weiter, jene Chronik einer gespaltenen Stadt, in der die Wut der einen, der aufbegehrenden Jugendaktivisten, die Angst der anderen, der verunsicherten Bürgerschaft, heraufbeschwor. In «Berner beben» - im Untertitel «Bilder und Töne zur Geschichte des bewegten Bern 1980-1990» - hatte Andreas Berger ein Jahrzehnt Berner Gegenkultur dokumentiert. Nicht aus der Position des distanzierten Beobachters allerdings: «Berner beben» ist eine deklariert parteiliche Chronik der langen und leidvollen Geschichte der autonomen Berner Jugendbewegung rund um das «Freie Land Zaffaraya» und das «Autonorne Jugendzentrum» in der alten Reitschule.


Tränengas und Knüppel

Vermummte Demonstranten, knüppelschwingende Polizisten und einnebelnde Tränengaswolken sind zwar als drastische Chiffren der neunziger Jahre auch in «Ruhe und Unordnung» zu sehen. Doch anders als in «Berner beben», wo die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Jugendaktivisten und Ordnungshütern nicht zuletzt als Versagen der politischen Behörden gebrandmarkt werden, haben solche Bilder der Gewalt in «Ruhe und Unordnung» vor allem eine Kontrastfunktion: Vor ihrem Hintergrund kann sich individuelles Handeln umso prägnanter entfalten.


Zeichen der Hoffnung

Ihr Leben sei der «Versuch, Anarchie zu leben in allem, was ich mache», sagt die 27jährige Klassikpianistin Sandra Ryf, die ihr politisches Engagement als Hausbesetzerin und Reitschulaktivistin mit ihrer künstlerischen Tätigkeit zu vereinbaren sucht: «In meiner Utopie muss das Schöne auch Platz haben, man kann nicht immer nur kämpfen.» Andreas Berger lässt seinen Film mit der jungen Frau beginnen, zeigt sie im versunkenen Klavierspiel. Die Kamera schweift über das prächtig gedeihende Gartenzaun vor dem Haus und findet darin zu einer strukturierenden Metapher: «Ruhe und Unordnung» erzählt von einer Handvoll Menschen, die im städtischen Betongrau auf eigene, unverwechselbare Weise Zeichen der Hoffnung setzen.

Da ist etwa die 49jährige Sekretärin Ottilia Hänni, die aktiv in der «Elternvereinigung drogenabhängiger Jugendlicher» mitmacht und bei der Betreuung von Drogenkranken mithilft - periodisch wiederkehrenden Gefühlen der Ohnmacht gegenüber dem Drogenproblem zum Trotz. Oder die 31jährige Susanne Marti, Betreuerin in einer geschlossenen Abteilung des Frauengefängnisses Hindelbank und in ihrer Freizeit Kupferradiererin. Sie will ihren Spielraum in diesem Land, in dem «es vieles gibt, das faul ist und nicht gut läuft», trotz allem nutzen: «Ich muss hierbleiben, da, wo ich herkomme».

Der 32jährige Werner Depp, einst aktives Mitglied der Hausbesetzerbewegung, ist nach der Zeit des kollektiven Aufbegehrens zu einem ähnlichen Schluss gekommen, wenn er nun seinen bildnerischen Neigungen nachgeht und Skulpturen aus Steinen gestaltet, die er auf seinen Bergwanderungen findet: «Jetzt habe ich persönliche Dinge, die mir wichtig sind.» Der 47jährige Kerim Volkoviski schliesslich, in Moskau geboren und seit 1981 in der Schweiz lebend, hat während einer mehrmonatigen Arbeitslosigkeit zu malen begonnen. Seitdem er bei einem Hausabbruch sein Atelier verloren hat, malt er meist zuhause auf dem Balkon.


Kreative Aggressivität

Die Porträts, deren einzelne Bestandteile sich mosaikartig und allmählich zum Ganzen fügen, werden durch einen Gast zusammengehalten und kommentiert: Der 73jährige Berner Schriftsteller Kurt Marti plädiert für eine «kreative Aggressivität» und liest an städtischen UnOrten - auf Berns Bahnhofplatz oder beim Jüdischen Friedhof an der Autobahn - Passagen aus seinem Buch «Hügelland», das die Auswüchse städtischer Unwirklichkeit mit trockenem Sarkasmus auf den Punkt bringt. «Ein Aufruf zur Hoffnung ist ein Aufruf zum Widerstand»: Die «Interessen der Humanität und der Ökologie», sagt Kurt Marti, seien «die einzigen vernünftigen, weil die anderen, kurzfristigen Interessen alle auf eine Zerstörung, eine Selbstzerstörung der Welt hinauslaufen».

«Ruhe und Unordnung» ist ein Film über die nicht überaus grosse Hoffnung, dass sich die langfristigen Interessen durchsetzen.


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Der kleine Bund, 10. September 1994


Wider den Selbstbetrug und die Angst in der Berner Gegenwart


von Fred Zaugg

Zur «Bund»-Filmmatinee mit dem Dokumentarfilm «Ruhe und Unordnung» von Andreas Berger im Kellerkino.


Der dritte Film von Andreas Berger ist anders. «Ruhe und Unordnung» ist keine «Tränengasoper» mehr wie «Berner Beben» vor vier Jahren und auch nicht mehr eine hintergründige, manchmal traurig wütende, manchmal witzige Collage wie 1986 «Zafferlot».

Mit seinen beiden ersten Filmen hat sich Andreas Berger den Namen eines unbestechlichen Berner Chronisten erworben, eines Chronisten, der, wie es seine historischen Vorgänger immer schon taten, seine Beobachtungen mit den Medien seiner Zeit, mit Super-8-Kamera und Video, aufzeichnet. Als unauffälliger Einzelgänger hat er die Geschichte des autonomen Jugendzentrums Zaff, seiner brutalen Zerstörung und der Gründung des Freien Landes Zaffaraya in Bildern notiert. Die Bewegung hin zu einem anderen Verständnis des Lebens und die Bewegung zurück vor der Macht, die Veränderungen im Keime erstickt.
Und «Berner Beben» stellte eine Fortsetzung und Verdichtung des ersten Films dar, unter Einbezug von Statements verschiedener Betroffener. Die Form war strenger, die Aussage gegen «die unerträgliche Scheinheiligkeit» jedoch nicht weniger brisant.

Nun legt Andreas Berger seinen dritten Film vor, der schon dadurch anders ist, als es sich dabei nicht mehr um die Bildelemente eines einsamen Chronisten handelt, sondern um ein Teamwork, das allerdings geprägt ist vom Engagement des Regisseurs, von seiner Unbestechlichkeit und seiner Sorge um den Sinnverlust in unserer Zeit. «Ein Dokumentarfilm um Poesie, Gewalt und verschiedene Formen des (Über-)Lebens in. einem reichen Land» steht unter dem Gegensatzwortpaar «Ruhe und Unordnung».
Einer pflückt auf einem Sonnenfleck Pilze, eine spielt Chopin, und ein anderer liest Gedichte. Ist es das, was Andreas Berger mit der Poesie meint,
die er neben die Gewalt stellt? Neben die Gewalt, die auch hier durch Bagger und Polizisten vertreten wird, die beide im Dienste jener einzugreifen
haben, die ihrer Macht sicher sind, der Reichen und Gewählten.

Klavier spielt Sandra Ryf, 27, Gedichte liest Kurt Marti, 73, Pilze pflückt Werner Depp, 32. Doch da sind auch noch Ottilia Häng, 49, Kerim Volkoviski, 47, und Susanne Marti, 31. Diese sechs Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts aus unserer Stadt tragen den Dokumentarfilm von Andreas Berger. Ohne Masken und mit vollem Namen geben sie vor der Kamera Auskunft über ihr Tun und Denken. Sie beziehen Stellung für ein verantwortungsvolles Leben, das sich nicht an politischen Parolen und nicht an wirtschaftlichen Saubermänner mit schmutzigen Westen, sondern an den einfachen Menschen orientiert, an unserer Gesellschaft, die sich zwar sozial gibt, es jedoch im entscheidenden Augenblick nicht ist. Im «Berner Beben» waren die Demonstrationen auf der Strasse zentral, hier sind es andere, persönliche, mutige, solche aber vor allem, die Hoffnung geben, weil sie zeigen, dass der Widerstand der einzelnen gegen die Erkältung der Welt entscheidend ist.
Die Probleme Berns, die Probleme der Zeit sind da: die protestierende Jugend und das Zementieren der Ordnung, die Zerstörung von günstigem Wohnraum und die Errichtung von Geschäftsbauten, die Drogen und die Unterdrückungsmechanismen gegen Drögeler, die Homosexualität und ihre Ausgrenzung, der Strafvollzug und die Ratlosigkeit, die kranke Natur und der fortschreitende Raubbau.
Sandra Ryf ist Druckerin in der Reitschule, lebt Anarchie und versucht dem Schönen trotz den «Schweinereien» einen Platz zu geben.

Werner Depp war einst Hausbesetzer, möchte nun aber eine Art Harmonie schaffen, um darin zu leben.
Ottilia Hännis Lebenspartner hat ein Kind, das in harten Drogen lebt. Sie kämpft als Mitglied der «Elternvereinigung drogenabhängiger Jugendlicher» für die Drogenlegalisierung, arbeitet bei der «Mobilen ambulanten Medizin» für Junkies und ist bei der Gassenküche anzutreffen.
Susanne Marti betreut in Hindelbank eine geschlossene Abteilung flür besonders schwierige Frauen.
Kerim Volkoviski ist homosexuell, Computerspezialist und arbeitet an Entwicklungsprojekten.
Und Kurt Marti, der Schriftsteller und Lyriker, plädiert für eine kreative Aggressivität, wendet sich gegen die Käfighaltung der Menschen und hofft auf mehr Gehör für die Minderheiten, die zu Vernunft aufrufen.

Andreas Bergers «Ruhe und Unordnung» ist anders. Er ist aus der Zusammenarbeit mit sechs Menschen entstanden, die sich gegen Selbstbetrug und Angst wenden, und er ist mit Christian Iseli an der Kamera, Andreas Litmanowitsch und Christof Schertenleib am Tonband und einem ausgewachsenen Team gedreht und verarbeitet worden. Die Berner Chronik hat erkennbare Gesichter erhalten und zu den gefundenen starke gesuchte Bilder. Zu hoffen bleibt, dass «Ruhe und Unordnung» beunruhigt und Ordnungen in Frage stellt. Das Leben, um das es Andreas Berger geht, verdient es.


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WOZ, 9. September 1994


Kein Kuscheln im Aufbruch


Von Johannes Wartenweiler

Wo sich in der Berner Szene etwas bewegt, ist er dabei: Andreas Berger – manchmal auch Sergej M. Pflasterstein geheissen – mit seiner Super-Acht-Kamera. Seine beharrliche Präsenz verdichtete sich im Laufe der Jahre zu den beiden Filmen «Zafferlot» 1986 und «Berner Beben» 1990. Nun erscheint als eine Art Fortsetzung «Ruhe und Unordnung». Die Bilder von Polizeieinsätzen, von Tränengas, von brennenden Fahnen und Autos sind geblieben. Berger hat ein Faible dafür. Und so endet auch «Ruhe und Unordnung» mit dem Rauch von Tränengaspetarden im dämmrigen Zwielicht. Einzige Lichtquelle ist der Mond, der sich als Strassenlaterne entpuppt. Es geht Berger nicht um dokumentarische Genauigkeit, sondern um den optischen Eindruck. Und so werden die Bauerndemo und die Fichendemo zu Ereignissen, die am Schnittpult Platzhalter für den gleichen Begriff werden: Widerstand.

Womit beschrieben wäre, wo sich Berger wiederholt und erschöpft, wo er ein Gefühl anspricht, sein Bedürfnis nach Geborgenheit, das sich im Ausnahmezustand erfüllt. Immerhin aber hat er gemerkt, dass eine «Tränengas-Oper» Mitte der neunziger Jahre nicht mehr der sozialen Wirklichkeit entspricht. Der Film ist eine Weiterentwicklung von Bergers Stilmitteln und Motiven. Die Vorgängerfilme waren geschnitten, wie Anfang der achtziger Jahre die Bewegungsblätter «Drahtzieher» oder «Eisbrecher» gelayoutet waren, eher Stimmungen und Gefühle vermittelnd denn Inhalte. «Ruhe und Unordnung» ist streng und komponiert. In das Dokumentationsmaterial schneidet Berger fünf Porträts hinein. Ausgangspunkt bleibt die «Bewegung», nur geht er mit dem Berner Schriftsteller Kurt Marti hinter sie zurück und mit seinen ProtagonistInnen über sie hinaus. Das Bild der amorphen Masse, das Pathos und die Schlagworte werden von konkreten Personen abgelöst.

Das «(Über-)Leben in einem reichen Land» ist nicht leicht, aber nicht unmöglich. Es gibt zwischen Reithalle und Institut für theoretische Physik, zwischen den Högern im Emmental und der Frauenstrafanstalt Hindelbank genügend Nischen, wo man sich einrichten kann. Diejenigen hinterlassen den nachhaltigsten Eindruck, die mehr als getriebene denn als treibende Kräfte erscheinen. Die nie «Bewegung» waren und nie «Widerstand». Kerim Volkowski etwa, gebürtig aus Moskau und als Schwuler schon immer im Ghetto, will sich nicht politisch in der Schwulenbewegung engagieren, weil er befürchtet, wieder in einem Ghetto zu landen. Oder Susanne Marti, Betreuerin im Frauengefängnis Hindelbank. Wie sie den Umgang mit den Knastfrauen sucht und doch am Schluss nach dem Gute-Nacht-Sagen mit dem Schlüssel die Machtverhältnisse klärt, geht unter die Haut. Von der Auflehnung der achtziger Jahre ist nicht viel geblieben, wenn das Porträt einer Gefängniswärterin Mitleid erregt.

Indem Berger sich auf fünf Leute konzentrieren kann, zeigt er auch, was nicht mehr ist: die Geborgenheit des Aufbruchs. Nur, beruhen solche Aufbrüche nicht immer auf Fehleinschätzungen und Missverständnissen? Sind das nicht überhaupt die Bedingungen, damit man über den eigenen Schatten springen kann? Oder wie Kurt Marti sagt: «Früher dachte ich, Spazieren habe etwas mit Spatzen zu tun.»

Missverständnisse hin oder her, ein Defätist will Andreas Berger nicht sein. Am Schluss des Filmes gehen zwei Menschen mit einem Transparent über die Kornhausbrücke: «Ein Aufruf zur Hoffnung ist ein Aufruf zum Widerstand». Die Brücke ist leer.


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Berner Woche, 9. September 1994


Es ist ruhiger geworden in Bern


von Bernhard Giger

Er ist der Chronist des «anderen» Bern: In der Reithalle und danach im Kellerkino und im Kino Münsingen werden «Berner Beben» aus dem Jahre 1990 und als Erstaufführung «Ruhe und Unordnung» von Andreas Berger gezeigt.
Eine «Tränengasoper» nannte der Autor bitter-ironisch «Berner Beben», seine 1990 fertiggestellte Chronik der achtziger Jahre. Wenn in der Stadt die Polizei und die Bewegten aneinander gerieten, wenn die Ordnungshüter mit oft wenig zimperlichen Mitteln gegen die vorgingen, die ihre Vorstellungen von einem Leben jenseits bürgerlicher Schranken verwirklichen wollten, war Andreas Berger mit der Kamera dabei. Die Eroberung der Reitschule als Autonomes Jugendzentrum dokumentiert der Film, den Versuch, eine Utopie zu konkretisieren. Und er geht ausführlich ein auf das Leben im «Hüttendorf» auf dem Gaswerkareal, das als Zaffaraya zum explosiven Reizwort und -thema der Stadt Bern wurde. Er zeigt die brutale Räumung in Bildern, die zuweilen den Eindruck vermitteln, der Filmemacher habe sich in einen Bürgerkrieg irgendwo auf der Welt, aber sicher nicht in das friedlich-verschlafene Bern verirrt.

Die Widersprüche

Geschichtsschreibung von unten ist «Berner Beben» (wie übrigens auch Bergers 1986entstandener Erstling «Zafferlot», der im Kino in der Reitschule ebenfalls vorgeführt wird). Ein Film über eine gespaltene Stadt, über die Wut und die Ungeduld der einen und die Angst und die Untoleranz der anderen. In «Ruhe und Unordnung», Bergers Film (und Chronik) aus den neunziger Jahren, lodert die Wut nicht mehr wie damals. Es ist ruhiger geworden in Bern – zumindest an der Oberfläche.
Geradezu idyllisch beginnt «Ruhe und Unordnung», mit einem Blick ins Grüne und mit Klaviermusik im Off. Sanft fahrt die Kamera dann über das Klavier, die Tasten und die Hände einer Pianistin hinauf zu ihrem Kopf; tief versunken in ihrer Musik scheint die Pianistin zu sein. Eine Idylle, gewiss, aber eine mit Widerhaken. Denn für die hier porträtierte Frau, die 27jährige Sandra Ryf, ist der Widerspruch zwischen der Schönheit und der Tief der Musik und der Brutalität und Zerissenheit der Wirklichkeit zum inneren Antrieb geworden: Die am Konservatorium ausgebildete Musikerin lebt und spielt in einem besetzten Haus und arbeitet zwischendurch in der Druckerei der Reitschule.

Leben in der Schweiz

Sandra Ryf und die anderen Porträtierten - die 31jährige Susanne Marti etwa, die in Hindelbank besonders schwierige Insassinnen betreut, oder der in Moskau geborene, 47jährige Kerim Volkoviski, der in der Zeit der Arbeitslosigkeit zu malen begann, oder die 49jährige Ottilia Häng schliesslich, die aktiv ist in der Elternvereinigung drogenabhängiger Jugendlicher – scheinen sich damit abgefunden zu haben, dass die Revolution nicht stattfinden wird. Doch resigniert haben sie deswegen nicht – hatten sie es, waren sie kaum im Film von Andreas Berger.
Der Filmemacher, dessen Standpunkt in allen seinen Werken nie ein neutraler ist, sondern der immer klarstellt, wo er selber steht - auch ganz direkt, bildlich, indem er bei Auseinandersetzungen mit der Polizei von der Seite der Demonstranten aus filmt -, sucht in «Ruhe und Unordnung» nach den Spuren des Widerstands in einer sinnentleerten, vom Beton verstellten Welt. Nicht mehr der offene, oft gezwungenermassen gewalttätige Kampf steht im Vordergrund, sondern das Bemühen, die guten und schlechten kollektiven Erfahrungen der achtziger Jahre nun individuell zu nutzen. «Ruhe und Unordnung» ist - abgesehen von ein paar Sequenzen - keine «Tränengasoper» mehr, sondern ein Film, der behutsam Möglichkeiten offenlegt, in dieser Zeit und an diesem Ort - Bern - leben und überleben zu können. Es sind keine von verlorenen Kämpfen Enttäuschte, die Berger zeigt, keine Flüchtlinge, die sich an exotische Orte zurückziehen oder ins innere Exil, sondern solche, die gewissermassen allem zum Trotz hier leben wollen. «Ich finde mich hier gut zurecht» sagt etwa der 32jährige Werner Depp, der Bernhard Luginbühl hilft, seine Kunst und seine Bubenträume zu verwirklichen. Susanne Marti meint, es sei zwar vieles faul in der Schweiz, aber «ich muss hierbleiben, da, wo ich herkomme». Und für Sandra Ryf ist nicht die Schweiz wichtig, sondern die Leute, mit denen sie zusammenlebt.
Es ist nicht mehr - wie in «Berner Beben» - Krieg in Bern, aber kalt ist es geblieben. «Ein Aufruf zur Hoffnung ist ein Aufruf zum Widerstand» steht auf dem Transparent, das zwei Männer im Schlussbild von «Ruhe und Unordnung» über die Kornhausbrücke tragen.
Die Brücke ist unbelebt, die Männer bewegen sich stadtauswärts und hinterlassen ein leeres Bild. Die Idylle des ersten Bildes des Films liegt in diesem Moment weit zurück. Es ist, als ob der Autor selber nicht ganz wässre, wieviel Hoffnung er sich in diesen frühen neunziger Jahren noch erlauben will. Und darf.


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Solothurner Zeitung, 30. Januar 1995


Eine Chronik der Schweiz in zwei unterschiedlichen Dokumentarfilmen


von Helmuth Zipperlen

Sowohl das Porträt des Fotografen Hans Baumgartner als auch die Befindlichkeitsschilderungen in «Ruhe und Unordnung» halten Zustände der Schweiz fest.


Yvonne Escher ist Leben und Werk des heute gut 80jährigen ehemaligen Lehrers und Fotografen Hans Baumgartner nachgegangen. Ihr Porträtfilm hat nicht ganz die Intensität anderer heuer gesehener Künstlerporträts. Allerdings ist Hans Baumgartner kein Selbstdarsteller und seine Schilderungen sind eher knapp. Er hat sich 50 Jahre lang in Bildern ausgedrückt. Er hat erst mit 60 Jahren geheiratet. Vorher war die Kamera seine «einzige Geliebte». Er wollte reisen und unabhängig sein. Mit 80 Jahren hat er sich selber pensioniert und seither keine Kamera mehr angerührt. Glücklicherweise hat er in den dreissiger Jahren auch Super-8-Filme gedreht. Diese und sein fotografisches Werk vermitteln ein eindrückliches Bild thurgauischen Alltaglebens von Ende der zwanziger Jahre bis in die Gegenwart.

In Bern rumort es weiter


Sandra Ryf arbeitet aktiv im Alternativkulturzentrum Reitschule mit und ist in der Hausbesetzerszene tätig. Daneben liebt sie klassische Musik, ist ausgebildete Pianistin und gibt Konzerte. Ottilia Hänni ist Sekretärin im Institut für theoretische Physik der Universität Bern und engagiert sich in der Elternvereinigung drogenabhängiger Jugendlicher und ist als Mitarbeiterin des Projektes "Mobile ambulante Medizin» helfend in der Drogenszene zu finden.
Susanna Marti hat beruflich vorwiegend mit Drogenproblemen zu tun, denn sie ist in der geschlossenen Abteilung des Frauengefängnisses Hindelbank tätig. In ihrer Freizeit stellt sie Kupferradierungen her.
Werner Däpp war aktiv in Jugendbewegungen und Hausbesetzerszenen tätig, lebt jetzt in einer Wohngemeinschaft und möchte das Protestieren Jüngeren überlassen (er ist 32). Er ist Teilzeitmitarbeiter des Künstlers Bernhard Luginbühl. Der gelernte Lastwagenmechaniker streift in sein Freizeit durch die Natur, sucht Pilze, Versteinerungen oder Goldflitterchen.
Kerim Volkoviski ist ein in Moskau geborener Usbeke und lebt seit 1981 in der Schweiz. Er arbeitet an ökologischen Entwicklungsprojekten für die dritte Welt.
Berger hat seine Reportagen</ zu Parallelmontagen gestaltet, so dass der Film Spannung bekommt. Er hat es verstanden, nahe an die Leute heranzukommen, ohne aufdringlich oder anbiedernd zu werden. Eine gelungene Bestandesaufnahme.


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ZOOM, 10/94


Ruhe und Unordnung


von Erna Truttmann

Ein Aufruf zur Hoffnung ist ein Aufruf zum Widerstand." Dieser Satz auf einem Transparent, getragen über eine Brücke, bildet den Schluss von Andreas Bergers zweitem langen Dokumentarfilm, einer Art Fortsetzung von «Berner Beben» (1990, ZOOM 19/90), der Geschichte der Berner Jugendbewegung in den achtziger Jahren, dem durchaus parteiisch gehaltene Dokument einer Zeit, die nicht nur in der Bundeshauptstadt Spuren hinterlassen hat. Andreas Berger unternimmt nun den Versuch, die aktuellen Formen des Widerstands aufzuspüren, indem er fünf Frauen und Männer unterschiedlichen Alters porträtiert. Kurt Marti liest dazwischen aus seinem Buch «Hügelland» Passagen mit kritischen Gedanken zur Schweiz als Wohn- und Lebensraum.

Sandra Ryff, 27 Jahre alt, ausgebildete Pianistin, arbeitet zeitweise in der Druckerei des Alternativkulturzentrums Reitschule und engagiert sich in der Hausbesetzerszene. Sie bezeichnet ihr Leben als «Versuch, Anarchie zu leben in allem, was ich mache». Von den Porträtierten bleibt sie politisch und in ihren Aktivitäten am meisten mit der ehemaligen «Bewegung» verbunden. Werner Depp, 32jährig, hingegen hat sich zurückgezogen. Heute ist er als ehemaliger Aktivist in der Hausbesetzerbewegung Mitbewohner in einer Wohngemeinschaft und arbeitet teilzeitweise beim Künstler Bernhard Luginbühl. In seiner Freizeit bearbeitet er Steine, die er auf seinen Wanderungen findet. Die politischen Träume von damals sind, wie er sagt, persönlichen Wünschen gewichen: «Ich will mich nicht zwanzigmal räumen lassen und mit dreissig noch grölen und irgendein autonomes Jugendzentrum öffnen gehen, oder, das müssen die selber machen.» Bezeichnenderweise pflegt er seinen Cannabisstrauch im Garten mit soviel Sorgfalt wie Susanne Marti ihre Zimmerpflanzen am Anfang des Films. Werner Depp erinnert ein wenig an die Protagonisten von Christoph Schaubs «Dreissig Jahre» (1989, ZOOM 5/90), die in ihrer zusehends angepassteren Haltung und ihrer Desillusioniertheit als Dreissigjährige kritischer, aber auch mit mehr Witz hinterfragt sind. Ottilia Häng (49), Susanne Martin (31) oder Kerim Volkoviski (47) schliesslich gehen wieder anderen Berufen nach. Gemeinsam ist allen die sozial und ökologisch engagierte Haltung zu aktuellen politischen Themen.

Bezugspunkt des Films bleibt die «Bewegung», obwohl von der Auflehnung der achtziger Jahre nicht viel geblieben ist, auch wenn sich die Lebensumstände in der Schweiz oder weltweit nicht etwa verbessert haben. Der Satz auf dem Transparent verweist weit mehr zurück in eine bewegte Zeit, als dass er Ausdruck aktuellen Aufruhrs wäre. Es ist ruhig geworden, auch in den Strassen Berns (lautstark und aufsehenerregend sind allenfalls die Streetparades, die Happenings der House-Szene). Die hier stellvertretend Porträtierten haben sich im grossen und ganzen in die Sphäre des Privaten zurückgezogen. Hoffnung und der Glaube an Traum und Utopie bestehen zwar noch immer. Die Formen des Widerstands, milder geworden, heissen nun aber Engagement im kleinen und Alltäglichen mit geringer Resonanz.

Vor dem Hintergrund von «Berner Beben» bleiben die Gründe für die Ermüdung und das Versanden der Spuren bewegter achtziger Jahre ungeklärt. Andreas Bergers Film greift derlei Fragen leider nicht ausdrücklich auf. Es scheint viel mehr, als wollte er festhalten am Transparent, das seine Wirkungsweise zum Aufbruch und Aufruhr Mitte der neunziger Jahre eingebüsst hat. Unordentliches oder Aufmüpfiges - wie der zweite Teil des Titels suggeriert - lässt sich nicht finden. Der Verweis in die achtziger Jahre mit Bildausschnitten von Demonstrationen, Polizeieinsätzen und Räumungen mutet verstaubt und wenig zeitgemäss an. Der Film, als Plädoyer für die Utopie einer lebenswerteren Welt, ist aber letztlich doch begrüssenswert.


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Jahrbuch Cinema 1993


Ruhe und Unordnung


Einen «Dokumentarfilm um Poesie, Gewalt und verschiedene Formern des
(Über-)Lebens in einem reichen Land» nennt Andreas Berger seine Bestandesaufnahme selbstbestimmter Existenz. Vier Jahre sind vergangen seit Berner beben, seiner Chronik der Berner Unruhen in den achtzigerJahren.

Berger porträtiert fünf Personen -– die Pianistin Sandra Ryf, den Handwerker Werner Depp, die Sekretärin Ottilia Häng, die Gefängnisbetreuerin Susanne Marti und den Software-Entwickler Kerim Volkoviski. Sie alle verbindet eine kritische Haltung gegenüber der real existierenden Schweiz. Berger interessiert sich für ihren Alltag, für ihre Ideale und Utopien, für ihre Konzessionen. Die sechste Person – als «Gast» angekündigt – ist der Berner Lyriker Kurt Marti, der aus seinem Buch Högerland vorliest.

Mit Absicht stellt Berger die ihn interessierenden Personen beim Pilze- und Beerensuchen, beim Giessen einer Topfpflanze und bei der Gartenarbeit vor. Diese Idylle ist trügerisch: Der Abriss einer Villa, rauchende Schlote im Gegenlicht, Betonorgien, Verkehrslawinen und eine Demonstration gegen Smog und den «Irrsinn der Normalität» bilden das Kontrastprogramm. Sandra fragt sich, wie sie politisches Engagement und persönliche Verwirklichung zusammenbringen kann: «Es passieren so viele Schweinereien, dass ich fast ein schlechtes Gewissen habe, stundenlang hinter dem Klavier zu sitzen.» Werner ist auf der Strasse und in der Hausbesetzerszene kaum mehr aktiv. Viel wichtiger sind ihm jetzt, neben dem Pflegen der Gemeinschaft in der WG, die Verwirklichung von persönlichen Projekten. Seine Ideale versucht er nicht mehr global, sondern lokal zu verwirklichen. Susanne hat als Betreuerin im Frauengefängnis Hindelbank keinen leichten Stand. Für die Insassinnen verkörpert sie das «System». Immer wieder hinterfragt sie ihre Rolle und versucht trotz den schwierigen Umständen, eine Vertrauensbasis zu den Frauen herzustellen. Kerim und Ottilia sind auf den ersten Blick am stärksten in die Gesellschaft integriert. Aber auch sie – Ottilia als autonome Gassenarbeiterin und Kerim als Homosexueller – geraten regelmassig mit ihr in Konflikt.

Ruhe und Unordnung zeigt eine verbale Radikalität, die weitgehend in der Bewegung der achtziger Jahre verhaftet ist. Die Unruhe ist historisch und wird mit Videosequenzen aus vergangenen bewegten Zeiten heraufbeschworen. Heute ist es ruhig, nicht nur auf den Berner Strassen. Die Probleme, die zur Unruhe Anlass gegeben haben, bestehen aber weiter. Werners Stillerwerden ist einigermassen repräsentativ für viele engagierte Menschen. Leider thematisiert Berger dieses Phänomen nicht, obwohl er Ruhe und Unordnung ausdrücklich als Fortsetzung von Berner beben bezeichneit.

Die Qualität des Films liegt in der Offenheit der Porträtierten, vor der Kamera grundsätzliche Fragen zu Lebensglück, Solidarität und Selbstverwirklichung zu erörtern. Es entsteht ein Puzzle, das aufzeigt, wie mit Lust Wege zu einem eigenbestimmten Leben begangen werden. Stellenweise erinnert Ruhe und Unordnung an ein Glanzlicht des neueren Schweizer Dokumentarfilms: Reisen ins Landesinnere von Matthias von Gunten, ohne aber dessen Poesie und Eindringlichkeit zu erreichen. (ts)


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