Der Bund, 19. April 2011
«Zaffaraya 3.0» könnte als Kennwort auf dem «Reiterlein» einer Archivmappe stehen oder als Etikette an einem Aktenkorpus. Andreas Berger bezeichnet damit die dritte «Folge» – eben «3.0» – seiner modernen audiovisuellen Stadtchronik «Zaffaraya». Dieser Titel des neuen Dokumentarfilms dürfte bei vielen Erinnerungen wecken von Zärtlichkeit bis Zorn, während er für andere ganz einfach Heute, Gegenwart, also Leben bedeutet. Dritte, mit der Berner Bewegung nicht Vertraute, könnte er möglicherweise mit seinem exotischen Klang sogar an eine Feriendestination mit Sandstrand mahnen, ein Paradies.
Jedenfalls wirkt «Zaffaraya 3.0» auf schwarzer Kinoleinwand gross, neutral und fast bürokratisch. Aber lief nicht schon davor die Kamera durch eine mit Tränengas und Geschrei angereicherte Laube der Berner Altstadt? Dramatik und Kampf scheinen angesagt zu sein. Die folgenden Untertitel «Auch eine Art Heimatfilm» und «Gesichter und Geschichten zur autonomen Bewegung 1980 bis 2010» verdeutlichen das Spannungsfeld, in welches Andreas Berger führt. Zugleich geben sie mit zwei Jahrzahlen, die dreissig Jahre umspannen, jene Klarheit, die schon aus den Geschichtsbüchern vertraut ist. Der Begriff «autonome Bewegung» allerdings lässt sich immer noch nicht bürokratisch ablegen, obwohl er schon längst historisch erfasst ist.
Handelt Andreas Bergers «Zaffaraya 3.0» nicht gerade davon, dass selbst in unserer wohlgeordneten, definierten, versicherten und gleichzeitig wiederum verunsicherten Umgebung noch etwas Ungezähmtes haust, etwas Lebendiges, eben diese «autonome Bewegung». Sie ist nicht so leicht zu jagen wie der Wolf, aber so leicht zu missbrauchen wie er. Wenn Andreas Berger seine geschichtlichen Geschichten schliesslich mit «Es war einmal ...» beginnt, so reiht er sich damit nicht in die Reihe der Märchenerzähler ein, sondern jener Zeugen, die kommenden Generationen zeigen, wie Welten aufeinanderprallen können – in nächster Nähe –, wie Gewalt dort zu schreien beginnt, wo Macht sich den Worten verschliesst, wo polarisiert wird statt gemeinsam nach Lösungen gesucht. Es war einmal eine Stadt ...
Ja, es war einmal jenes Bern, von dem Andreas Berger in den beiden langen Dokumentarfilmen «Berner beben» (1990) und «Ruhe und Unordnung» (1993) berichtet hat und als Stadtchronist festhalten musste, mit welcher Wut die Fronten einander nicht nur gegenüberstanden, sondern auch gewalttätig etwas verunmöglichten, was letztlich doch ihr höchstes Ziel war: Raum für kreative Selbstverwirklichung, Lebensraum und sogar Selbstverantwortung. Auch in «Zaffaraya 3.0» wird die Hasswelle nicht verschwiegen: Es ist sogar notwendig, bei ihr anzuknüpfen, weil die Menschen, welche nun als Beteiligte von einst geladen sind, sonst gar nicht in ihrer Ganzheit wahrgenommen werden könnten.
Wurde Andreas Berger bisher als Anwalt der bewegten Jugend verstanden, die gegen Wände anrennt, so erscheint der Chronist mit der Kamera heute als ein engagierter Berner, der seinem Kinopublikum Türen, Fenster und Augen öffnet auf Bereiche, die bisher nicht bloss verschlossen waren, sondern mit Vorurteilen versiegelt – aufseiten der Bewegten wie der Polizei. Berger sucht Menschen, die ihm Vertrauen schenken, sucht Partner, die bereit sind, über ihre Erlebnisse, ihre Vergangenheit, aber auch über ihre Pläne zu sprechen und über ihre Träume.
«Zaffaraya 3.0» wird durch sie zum packenden Dokumentarfilm und hat dank ihnen oft Qualitäten eines Spielfilms im präzisen Umgang mit den Protagonisten, die zwar nicht als Stars auftreten, jedoch in sorgfältig und feinfühlig gestalteten Bildern und eingängigen persönlichen Gesprächen, in Begegnungen zu Mitmenschen, ja Nachbarn werden, mit denen wir unser Bern und seinen Lebensraum teilen. Dabei wird nichts schöngeredet. Reibflächen dürfen bleiben. Aber welche Kraft geht von der Zaffarayanerin Kat Aellen (geboren 1969) aus und welche Besinnlichkeit, Klarheit und Offenheit vom Polizisten Alfred Rickli (1953, siehe auch «Bund» vom Donnerstag). Wie tief in sein schwieriges Leben lässt uns Fritz Trochsler (1962) blicken, der heute mit der Videokamera den Demonstrationen folgt, einst jedoch mit dem Kranich-Frevel die temporäre Schliessung der Reithalle provozierte. Mit Nathalie (1971) und ihrem Söhnchen Leo darf das Publikum teilhaben am Einzug ins «neue» Zaffaraya. Güggu (1973) und Kate (1988) öffnen die Wagenburg der Stadtnomaden, der Veganer Ruben (1988) jene der Stadttauben.
Es ist entscheidend für «Zaffaraya 3.0», dass die wichtigsten Mitwirkenden mit Namen genannt werden, denn nur so ist es möglich, ihren Mut und ihre Risikobereitschaft zu würdigen. Andreas Berger, der auch bekannt ist als ehemaliger «Bund»-Filmkritiker und -Kulturredaktor, stellt ja sein Werk ganz bewusst gegen die Anonymität und für gegenseitigen Respekt. Noch immer ist er der Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann und Cutter in Personalunion, ein selbst ernannter Chronist eben, der nicht nur nahe am Geschehen, sondern auch nahe an dessen Protagonisten und – was hier deutlich in Erscheinung tritt – nahe an ihren Problemen und Träumen ist.
Als Filmautor ist er jedoch nicht ein Einzelkämpfer: Der zweite Kameramann Ueli Grossenbacher, der Cutter Christof Schertenleib und die Cutterin Kathrin Plüss haben wohl wesentlich zur knappen und aussagekräftigen Form beigetragen. Sie bei dem viele Stunden umfassenden historischen und aktuellen Material zu finden, dürfte nicht immer leichtgefallen sein. «Zaffaraya 3.0» ist gelungen.
«Ich habe schon das Paradies hier. Ich kann es mir fast nicht anders vorstellen», sagt die Zaffarayanerin Kat Aellen am Schluss des Films, bevor auf ein wildes Konzert mit Reverend Beat Man geschnitten wird. Springt man vom gewalttätigen Anfang zu diesem Schluss, zu diesen besinnlichen Worten aus dem neuen alten Zaffaraya und zu den wilden Klängen in der Reitschule, so könnte der Gedanke aufkommen, es handle sich beim Dokumentarfilm doch eher um ein Märchen. Zwischen den beiden Polen ist indessen ein Weg, ein Weg, der zu empfehlen ist, weil er zu den Menschen führt, ein Weg, der allen offen steht.
WoZ, 24. März 2011
«Die geplante Reise in die Innenräume der Subkultur wirkt eher anachronistisch als anarchistisch.» So lautete ein Argument, mit dem das Bundesamt für Kultur 2008 die Förderung für «Zaffaraya 3.0», den dritten Teil von Dokumentarfilmer Andreas Berbers Krawall- und Besetzerchronik, ablehnte. Der Satz selbst kommt im Film (der andere Geldgeber fand) nicht vor, wohl aber die Haltung, die er zum Ausdruck bringt: die Anmassung von Seiten der Behörden, darüber zu befinden, welche Kritik am Staat, den sie verwalten, angemessen ist und welche nicht. Solche Anmassungen sind nicht neu. Bereits 1964 schrieb Herbert Marcuse: «Herrschaft integriert alle wirkliche Opposition und verleibt sich alle Alternativen ein.» Doch erreicht diese Einverleibung heute eine neue Radikalität: Sie erfolgt weitgehend im Einverständnis mit dem Einverleibten.
In Teil eins («Zafferlot», 1986) und Teil zwei («Berner Beben», 1991) der Chronik wäre ein solches Bild sarkastisch gewesen: Polizei, Behörden und Besetzer diskutieren «friedlich und fröhlich nebeneinander» über Wege, «die für beide Seiten stimmen». In Teil drei nun ist es wahr geworden: Wie IndianerInnen in Reservaten hocken die BesetzerInnen auf Grundstücken, die sie sich nicht ausgesucht haben. Was gestern noch «Chaoten» waren, sind jetzt «alternative Wohngruppen», die statt «freier Republiken» kleine «Experimentierzonen» einrichten, die vom System verwaltet werden, das sie ablehnen.
Megafon, 20. März 2011
Bern erbebt noch immer
Während der bewegten frühen 80er-Jahre war der «Guerilla-Filmer» Andreas Berger überall präsent, wo es zu Demonstrationen, Besetzungen, Räumungen und Ausschreitungen kam, wobei der «Mann mit der Kamera» seine/deren Anwesenheit mitunter nicht nur vor den jugendlichen Bewegten, sonder auch gegenüber den Hütern von Ruhe und Ordnung verteidigen musste, umso mehr als offensichtlich war, von welcher Seite her er die Ereignisse dokumentierte.
Mehr als zwanzig Jahre sind vergangen, seit mit «Berner beben» (1990) die erste Auswertung des mit einer Super-8 Kamera festgehaltenen Materials vorlag, welches er jeweils filmte, wenn der lokale Arm der damaligen Jugendbewegung sich zusammenfand, zu kämpfen oder zu feiern. Der Chronist solcher Aktivitäten in jener Zeit wird später im Rückblick einen Film als «veritable Tränengasoper» bezeichnen. Mit «Zafferlot» (1985) hatte er bereits einen Ausschnitt des gesammelten Materials zu einer halbstündigen, frechen «Agit-Doku» montiert, diverse mehr oder weniger gelungene Aktionen dokumentierend, ironisch gebrochen durch gestellte und echte Interviews. Mit «Ruhe und Unordnung» (1993) setzte er seine Chronik fort, diesmal eine Szene beleuchtend, welche in der Reitschule ihren Unruhe-Punkt erobert hatte, die Verantwortung für das Eingeforderte übernommen: Entwicklungen, die diese Verlagerung von der Strasse in feste Gemäuer mit sich brachte für eine Bewegung, für die Kultur und Politik nicht zwei verschiedene Dinge sein sollten, kamen in Interview-Porträts einzelner AktivistInnen zur Darstellung.
Mit «Zaffaraya 3.0» (2011) wird nun das Bestreben fortgesetzt, Zustände und Entwicklungen über Interviews und Dokumentaraufnahmen einzelner Charaktere zu reflektieren. Dabei wird bewusst der Fokus auf die freie Siedlung Zaffaraya gerichtet, deren Umzug ins Neufeld mit der Wiederbesetzung der Reitschule 1987 sozusagen zusammenfiel, und deren Umsiedlung von einer Parzelle, zwischen Autobahn, Autobahn-Zubringer und -Ausfahrt, auf eine neue jenseits der Autobahn gerade anstand. Zudem entstanden während der Jahre weitere Gruppierungen, welche nach dem Vorbild des Zaffaraya Gelände in Anspruch nahmen, mit alternativen Wohnformen zu experimentieren, in Bauwagen und anderen mobilen Behausungen zu existieren: Stadt-Tauben und -Nomaden beschäftigen mittlerweile hiesige Politik und Behörden, wobei von beiden Seiten die Bereitschaft zum Dialog manifestiert wird. Es kommt zum Teil zu direkt rührenden Szenen, wenn Gelände übergeben, Baureglemente überreicht werden, oder wenn in trauter Runde an den Stadtgesprächen zwischen Delegierten des «Mutterschiff» Reitschule und er Stadtbehörden Probleme diskutiert werden. Kontrastieren tun da Aufnahmen von den Ausschreitungen anlässlich des SVP-«Marsches auf Bern», welcher durch massive Krawalle am 6. Oktober 2007 verhindert wurde, ohne dass dabei eine Geiss zu Schaden gekommen wäre, aber nicht ohne dass sich diverse Gemüter erhitzten daran.
Andere Aufnahmen, auf welchen Grenadiere, rauchende Petarden und gepanzerte Wasserwerfer zu sehen sind, sind zur Bebilderung der früheren Geschichte eingeschoben, aufgenommen von einem weiteren Chronisten, der seit Anbeginn auf diversen Medien festhält, was ihm vor die Linse kommt. «Manche Leute filmen Bären in einem Bärenpark, für mich ist nun einmal die Polizei das Objekt meiner Forschungen», meint Fridu T. einmal sinngemäss, eine der im Film porträtierten Personen. Der auch als Antifrost bekannte Künstler legt seinem Sozialarbeiter an einer Stelle der Dokumentation unumwunden dar, das er zu dem Zeitpunkt mitunter noch immer mit Drogen dealt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. An anderer Stelle meint er, dass er als ehemaliges Heimkind seine Vaterpflichten dermassen vernachlässigt hat, dass er seinen Söhnen institutionelle Fürsorge nicht hat ersparen können.
Seine Wege kreuzen sich mit Akt Alleen, der Kuratorin des ArtSouk im Dachstock der Reitschule, welche bereits zum fünften Mal geladenen KünstlerInnen ihr Werk auszustellen und jeweils zwei Werke zur Versteigerung freizugeben einlädt, wo seine an Mönchs «Schrei» erinnernden, vielfältig wiederholten Darstellungen skizzierter Gesichter auf verschiedenen Materialien ein weiteres Mal unter den Hammer kommen. Akt ist eine langjährige Reitschul-Aktivistin und Bewohnerin des Zaffaraya, auf deren Konto nicht wenige historische Dachstock.Konzerte gehen. Freimütig äussert sie sich über ihre Probleme, mit dem Umfeld ebenso wie mit dem Zustand ihrer Gesundheit, wobei ihr Umgang damit zu beeindrucken vermag.
Mit der Freundin verbindet sie vor allem das Leben im Zaffaraya: Der Umzug steht an, und Nathalie sieht dem Bezug des neuen Geländes mit gemischten Gefühlen entgegen. Unter anderem sorgt sie sich, dass ihr heranwachsender Sohn Mühe haben könnte, sich an den neuen Ort zu gewöhnen. Sie sinniert über das Hernawachsen in einer Gemeinschaft mit offener Lebensform, den weitgehenden Verzicht auf Privatsphäre, und hat sichtlich Mühe, ihren Sohn im Kindergarten abzugeben.
Der Punk und Polizistensohn Rüben ist Teil der Wagensiedlung Stadttauben, marschiert an vorderster Front mit dem «schwarzen Block», und geht als konsequenter Veganer so rücksichtsvoll mit Tieren um, dass er selbst die Spinne, die ihn am Schlafen hindert, nicht zertritt. Sein Rezept für vegane Lasagne, eine Begegnung mit seiner Mutter, welche ihm prophezeit, dass er einmal tatl spiessige Kinder haben werde, und eine Begegnung nach fünfzehn Jahren mit einer ehemaligen Freundin, zufällig vor der Kamera an einem Schrottbar-Festival in Biel, hegören zu den bleibenden Eindrücken des Films.
Von den Stadtnomaden werden der Strassenmusiker Güggu und dessen Freundin Kate porträtiert, welche früher bettelte und seit mehr als einem halben Jahr hauptsächlich mit Feuershows ihr Geld verdient. Ein möglichst naturnahes Leben wollen sie führen, tun sich schwer mit dem Gedanken, in die «normale» Arbeitswelt mit geregelten Arbeitszeiten einzusteigen. Angewiesen, mangels verfügbarem Terrain nicht länger als drei Monate an einem Platz zu bleiben, zieht die Gemeinschaft bis zu einer längerfristigen Lösung von Ort zu Ort.
Die grössten im Film ersichtlichen Veränderungen, die stattgefunden haben, lassen sich jedoch wohl im Porträt des Polizisten ablesen, welcher seit über fünfundzwanzig Jahren im Einsatz gestanden hat, wenn es um mitunter unfriedlichen Ordnungsdienst bei Räumungen und Demonstrationen ging. Er ist auch seit langem Mitglied der Delegation der Stadt bei den Gesprächen mit der Reitschule, und er bringt auf den Punkt, was wann wo abgegangen ist: «Am Anfang waren da die Polizeieinsätze an den Demonstrationen jeden Montag nach den VVs, am Donnerstag während dem Abendverkauf, und an den Samstagen. Heute sind es vorwiegend die sportlichen Veranstaltungen an den Wochenenden, welche erhöhte Präsenz erfordern.»
Eben auch «einen Art Heimatfilm» beschert Ändu Berger der hiesigen Kinolandschaft, der Premiere feiern wird am 17. März im Kino der Reitschule, weitere Vorstellungen daselbst und im Kino im Kunstmuseum. Das Kino in der Reitschule zeigt zudem auch die früheren Filme «Zafferlot» und «Ruhe und Unordnung».
Der Bund, 17. März 2011
Er ist im Berner Mattenhofquartier aufgewachsen. Als Kind hat er im Kocherpark gespielt. Das ist der Park, in dem sich später die Drogenszene aufhielt. Mehr ist von Alfred Rickli über sein Privatleben nicht zu erfahren. Auch im Film «Zaffaraya 3.0», der heute in der Reitschule uraufgeführt wird, sagt er nichts, was übers rein Fachliche hinausginge. Ausser in einer Szene, in der er am Telefon zu sehen ist. «Du, es wird heute ein bisschen später», hört man ihn sagen.
Mit seinen früheren Werken hat sich der 50-jährige Berner Filmemacher, Filmkritiker und Journalist Andreas Berger einen Namen als Chronist der Berner Jugendbewegung gemacht. In seinen Filmen werden die Polizisten nicht immer von ihrer freundlichsten Seite gezeigt. Es ist deshalb nicht selbstverständlich, dass Berger einen Polizisten zum Mitmachen bewegen konnte.
«Als das Kommando der damaligen Stadtpolizei Bern die Anfrage erhielt, lag kein fixfertiges Drehbuch vor, es waren bloss Ideen und Skizzen», erinnert sich Alfred Rickli im Gespräch mit dem «Bund». Die Polizei sei aber zum Schluss gekommen, es könnte durchaus etwas daraus entstehen, «das auch für uns interessant ist». Schliesslich wurde Rickli beauftragt, bei diesem Projekt mitzumachen – «weil ich ein‹Stadtgiel› war» und weil er aufgrund seiner Führungsfunktionen auch in der Lage war, «gewisse Hintergrundinformationen» zu liefern. Der 58-Jährige ist heute Chef Stationierte Polizei Nord. Er ist unter anderem für die ganze Berner Innenstadt zuständig.
Der Unterschied ist augenfällig: 1987, als das Hüttendorf Zaffaraya geräumt wird, gibt es kein Miteinander, nur Konfrontation – 20 Jahre später spazieren Polizisten locker und ohne Schutzmontur aufs Zaffaraya-Gelände im Neufeld. Gegen Ende der 90er-Jahre sei im Polizeikorps ein Generationenwechsel erfolgt, sagt Rickli. Dieser «hat es ermöglicht, gewisse Dinge anders anzugehen». Neu galt die Doktrin der drei «D» – Dialog, Deeskalation, Durchgreifen. Es war aber nicht nur das. Rickli sagt, auch «auf der Gegenseite» habe es einen Generationenwechsel gegeben, «es war nicht mehr dieser Zug in der Bewegung» wie in den 80er-Jahren. Alle Akteure hätten einen Wertewandel mitgemacht, «auf beiden Seiten haben sich in den letzten Jahren Verhärtungen aufgeweicht».
In den 80er-Jahren sei es für einen Polizisten nicht möglich gewesen, sich Demonstranten alleine zu nähern, sagt Rickli. «Er wäre umgehend angegriffen worden – der Polizist war immer das Feindbild.» Damals seien sich bei Demonstrationen zwei starre Lager gegenübergestanden, «so wie in Morgarten, Murten oder Laupen: Und entweder ging es los – oder eben nicht». Heute dagegen sei auf beiden Seiten eine viel grössere Flexibilität feststellbar. Einen Grund dafür ortet Rickli bei den neuen Kommunikationsmitteln. Heute gebe es viele Möglichkeiten, noch kurz vor oder auch während einer Demonstration Absprachen zu treffen.
Rickli hat bisher bloss die Szenen gesehen, in denen er selber vorkommt oder in denen Polizisten zu sehen sind – «mit einem guten Gefühl», wie er sagt. Die vorgängige Visionierung gehörte zu den Bedingungen, damit die Polizei überhaupt mitmacht. Den ganzen Film werde er am Samstag an der «Bund»-Filmmatinee anschauen. Für Rickli ist die Frage zu privat, ob der über Jahre dauernde Kontakt zu Menschen, die ganz anders leben als die grosse Mehrheit, auf ihn als Polizisten in irgendeiner Form Einfluss gehabt hat. Er betrachte sich auch im Gespräch über den Film als Vertreter der Polizei, sagt er.
Interessant wäre es trotzdem: Es ist ja denkbar, dass auch Polizisten davon träumen, einen Bauwagen herzurichten.
Kulturagenda, 16. März 2011
Wer in Bern mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, der ist ihm sicher schon begegnet, dem Mann mit Gitarre, Hund und Dreadlocks. Dem Mann, der den Fahrgästen in Trams und Bussen mit seinen Mundartliedern ein Lächeln auf die versteinerten Mienen zaubert. Die Rede ist vom Strassenmusiker Güggu. Er und fünf weitere Autonome sowie ein Polizist sind die Protagonisten des neuen Dokumentarfilms «Zaffaraya 3.0» von Andreas Berger. Der Berner Filmemacher hat sich mit «Berner beben» (1990) oder «Ruhe und Unordnung» (1994) einen Namen als Chronist der autonomen Berner Jugendbewegung gemacht. Sein neustes Werk sei aber nicht als Chronik gedacht, erklärt er: «Ich wollte die Menschen zu Wort kommen lassen und sie so vielschichtig und lebendig zeigen, wie sie sind.»
Porträtiert werden Aktivisten der ersten Stunde, wie etwa Kat Aellen, die noch immer zu den Zaffarayanern gehört und in der Reitschule arbeitet. Oder Fritz Trochsler, der zweifache Familienvater und Maler, der in den Achtzigern intensiv mitmischte und lieber «Bullen an den Demonstrationen studiert statt Bären im Bärenpark». Oder Natalie, die mit ihrem Sohn Leo im Berner Wohnwagendorf Zaffaraya wohnt. Die drei Veteranen, die vor zwanzig Jahren an vorderster Front auch mit Gewalt für die Forderungen nach einem Autonomen Jugendzentrum (AJZ) einstanden, führen heute ein ruhigeres, fast bürgerliches Leben.
Mit den Stadttauben und den Stadtnomaden rückt die nächste Generation von Autonomen heran, die versucht, ihren Traum vom Aussteigen zu leben. Da ist zum Beispiel der Punk und Polizistensohn Ruben, der gerne trinkt, aber kein Fleisch isst, eine Dachdeckerlehre macht und findet, «Wohnen sollte für alle gratis sein». Oder die beiden Stadtnomaden Güggu und Kate, die sich ihren Lebensunterhalt nicht mehr mit Mischeln, sondern mit Feuershows verdienen wollen. An ihrem Traum vom alternativen Wohnen halten die beiden fest. Alle drei Monate müssen sie ihre Habseligkeiten zusammenpacken und mit ihren Wohnwagen an einen neuen, ihnen von der Stadt zugewiesenen Platz ziehen.
Es ist erstaunlich, wie offen die Porträtierten über ihr Leben, ihre Träume und Ängste sprechen. Dabei zeigen sich auch die weniger sonnigen Seiten: Drogen sind genauso ein Thema wie der Kampf mit den Behörden oder die Krankheitsgeschichte von Kat Aellen. Rund zwei Drittel des Materials hat Andreas Berger im Alleingang gefilmt. «Nur so war es möglich, so nah an die Menschen heranzukommen», erklärt er.
Ein zentraler Punkt für Berger war das Miteinbeziehen der Sicht der Polizei. Die Idee des unkommentierten, unparteiischen Dokumentierens stand für Berger bei «Zaffaraya 3.0» im Gegensatz zu seinem parteilichen Film «Berner beben» im Vordergrund. So ist der siebte Protagonist Alfred Rickli, der den demonstrierenden Jugendlichen in den 1980er-Jahren als Polizist gegenüberstand. Auch er erzählt relativ offen, etwa von der häufigen Schwierigkeit, das Gesetz durchzusetzen. Am Schluss sprechen sowohl Alfred Rickli als auch Kat Aellen, die ihm vor fünfzehn Jahren mit Pflastersteinen im Anschlag gegenüberstand, vom Paradies auf Erden. Schnitt. Gleich danach stellt Berger dem Bild vom Paradies die Aufnahme eines brennenden Containers gegenüber. Und am Schluss bleibt die Frage offen: «Handelt es sich hier um ein letztes Aufbäumen, oder sind es bereits die Vorboten einer neuen autonomen Bewegung?»
Berner Zeitung, 15. März 2011
Bern, Mitte 1980er-Jahre: Mehrmals pro Woche gehen Jugendliche auf die Strasse, immer wieder kommt es zu wüsten Ausschreitungen. Die Demonstrierenden fordern den Erhalt bezahlbaren Wohnraums und kämpfen für Freiräume wie die Wagen- und Zeltsiedlung Zaffaraya auf dem Gaswerkareal und das Autonome Jugendzentrum (AJZ) in der Reitschule.
Bei allen Debatten, Happenings und Strassenschlachten war der Berner Filmemacher Andreas Berger mit der Kamera dabei. 1990 schnitt er die Bilder zum Film «Berner Beben», bei dem aus heutiger Perspektive besonders die Masse von Menschen erstaunt, die sich mit den Forderungen solidarisierte und zu einer «Bewegung» wurde.
Nun kommt Bergers neuer Film ins Kino, «Zaffaraya 3.0». Die Ziffer bezieht sich auf die drei Standorte, jenen beim Gaswerk und die beiden im Neufeld, wo das «freie Land Zaffaraya» 2007 wegen des Neufeldtunnels seine Grenzen neu ziehen musste. «Und sie steht dafür, dass Zaffaraya – wie die Reitschule – eine Errungenschaft der Achtziger-Bewegung ist, die es ins dritte Jahrtausend geschafft hat», erläutert Berger.
Im Zentrum von «Zaffaraya 3.0» stehen sieben Menschen. Während Einzelne schon immer dazu gehörten, waren andere noch nicht einmal geboren, als die Bewegung ihren Anfang nahm.
Immer schon dabei war Alfred Rickli, allerdings auf der Gegenseite. Als Polizist verkörpert er in «Zaffaraya 3.0» den Wandel der Polizeiarbeit. 1987 war Rickli dabei, als Zaffaraya mit Tränengas und Gummischrot geräumt wurde. 20 Jahre später stossen Polizei, Politik und Zaffarayaner gemeinsam auf den erfolgreichen Umzug der Wagensiedlung an, und an Demonstrationen wird die 3-D-Strategie verfolgt: Dialog, Deeskalation und erst als Ultima Ratio Durchgreifen.
Doch nicht nur die Polizei und ihre Eignung als Feindbild für die Bewegten haben sich verändert. Mit seinem Blick auf dreissig Jahre widerständige Jugendkultur stellt Andreas Berger vermeintlich einfache Wahrheiten auf den Kopf – und zeigt, dass fast alles eine Frage der Perspektive ist.
Die Reitschule? Für die einen ein rechtsfreier Ort, für den jungen Punk Ruben von den «Stadttauben» nicht einmal mehr ein AJZ. Zu etabliert ist ihm das Haus, das einst ohne Konsumzwang allen offen stand – nun steht in «Zaffaraya 3.0» eine lange Schlange vor dem Eingangstor, während daneben ein junges Paar eine Feuershow aufführt und hofft, dass das Partypublikum ein paar Münzen für sie entbehren kann.
Die jungen Artisten heissen Kate und Güggu. Wie Polizist Rickli und Punk Ruben sind sie Hauptdarsteller von «Zaffaraya 3.0». Alle drei Monate stellen sie ihre Wagen auf einen neuen Platz, den Stadt, Burgergemeinde und Kanton den «Stadtnomaden» zuweisen. «Hallo Schnugibutz», ruft Kate ihrem Freund zu, und auch wenn sie wortwörtlich im Morast stecken: das fünfjährige Jubiläum ihrer Liebesgeschichte vergessen sie nicht.
Auch im Zaffaraya verwischen sich die Grenzen zwischen bürgerlichen Konventionen und Aussenseitertum, wenn am 6. Dezember der Samichlaus kommt und den Kindern Lob und Tadel austeilt.
So etabliert sind die neueren Wagenplätze noch lange nicht. Ruben und seine «Stadttauben» lassen sich im Gegensatz zu den «Stadtnomaden» nicht ins offizielle Wagenplatzregime einbinden, sie wollen sich ihren Platz selber nehmen. Aber auch Ruben verweigert sich nicht total: Zwar geniesst er ein schönes Besäufnis und die Möglichkeit, bis am Nachmittag auszuschlafen, doch dann bleibt der gelernte Dachdecker auch wieder einmal eine Woche trocken und steht morgens um sieben auf der Baustelle. Im Film sagt er einen Satz, der 2011 schon fast eine absurde Denkfigur darstellt: «Wohnen sollte gratis sein.» Vor dreissig Jahren vermochte der Satz zu bewegen, und an Berns Rändern erinnern Wohnwagen noch heute daran.
20minuten, 13. März 2011
Seit fast 30 Jahren dokumentiert Andreas Berger die Berner Jugendbewegung. Früher mit einer Super-8-Kamera und anwaltschaftlichem Eifer gegen die Staatsgewalt, später mit einem professionellen Filmteam aus einer neutraleren Perspektive – und nun entstand mit dem mittlerweile vierten Streifen unter dem fast versöhnlichen Titel «Zaffaraya 3.0» auch eine Art Heimatfilm. Er zeige den Wandel, den die Alternativkultur seit den Krawallen ums Zaff und AJZ durchgemacht habe, erklärt Berger: «Heute ziehen die Wagenburgen diskussionslos weiter und die Stadt toleriert sie.»
Auch der Umgang zwischen Autonomen und Polizei habe sich entkrampft. «Die Spannungen und Eskalationen, die wir bis 1999 hatten, liessen keine Gespräche zu», erinnert sich Polizist Alfred Rickli (58). Er ist einer von sieben Hauptfiguren, die der Film porträtiert. «Weil ich einen Vertrauensvorschuss geniesse, konnte ich nahe an diese Menschen ran», so Berger. Die meisten Protagonisten sind bei der ausverkauften Vorpremiere im Reitschulkino dabei. Polizist Rickli schaut den Film aber lieber am 19. März im Kino Kunstmuseum. Bergers Kommentar dazu: «Trotz Annäherung – kleine Spannungen bleiben halt noch.» (pec/mar/20 Minuten)
Der Bund, 22. November 2008
«Ich bin voller Zuversicht», sagt Andreas Berger und lacht schelmisch, «manchmal erwache ich jedoch morgens und fürchte, dass mir alles über den Kopf wächst.» Der 47-Jährige hat sich mit «Berner beben» (1990) und «Ruhe und Unordnung» (1993) einen Namen gemacht als Chronist der Berner Jugendbewegung; gegenwärtig steckt er mitten in den Dreharbeiten zu «Zaffaraya 3.0». Berger ist aber nicht nur Filmemacher, er ist als Filmkritiker auch «Bund»-Kulturredaktor und damit ein Redaktionskollege.
«Kino ist spannender als die Wirklichkeit», wusste schon der 12-Jährige, als er den Film «Stagecoach» von John Ford in der Hauptrolle als Offenbarung empfand. Aber der Jugendliche beliess es nicht bei passiver Cinephilie. Mit einer Super-8-Kamera drehte er eigene Filme – sein Erstling «Last Game – Der Satan mischt die Karten» wartete mit «15 Toten in 13 Minuten» auf und spielte «bei Produktionskosten von 200 Franken immerhin 600 Franken ein». Bereits als Gymnasiast schrieb er auch regelmässig Filmkritiken für den «Bund».
Die Matura fiel mit dem Beginn der Jugendbewegung 1980 zusammen. Andreas Berger drehte in einem besetzten Haus ein Märchen und wuchs so in die Rolle des Chronisten hinein. An Demos war er stets mit einer Super-8-Kamera und Fassbinder-Hut unterwegs. Und es gab viel zu dokumentieren: Abbruch des Zaffs oder die Räumung der Zaffaraya-Siedlung. «Allmählich reifte die Idee, mit dem Filmmaterial ein Pendant zu ,Züri brännt' zu realisieren», sagt Berger. Als er vor einem Jahr anlässlich der DVD-Veröffentlichung von «Berner beben» den Film wieder einmal gesehen hatte, «erschütterte mich die Gnadenlosigkeit im Umgang mit Feindbildern» – etwa mit den Gemeinderäten aus jener Zeit. Der aus Wut gespeisten Einseitigkeit von damals will er heute einen «differenzierteren Blick» gegenüberstellen. Mittlerweile ist Berger dreifacher Familienvater, aber der «alte Stadtindianer» sei durchaus noch am Leben. Immer noch gelte ein anwaltschaftlicher Ansatz, er wolle aber einzelne Leute und ihre Erfahrungen ins Zentrum rücken.
«Zaffaraya 3.0», an dessen Finanzierung sich Berger auch mit eigenem Geld beteiligt, porträtiert sieben Menschen aus unterschiedlichen Milieus: etwa den legendären «Kranich»-Friedu, der auch mit 46 noch bei Demos dabei ist, oder ein junges Paar in der Wagensiedlung der Stadtnomaden – und einen älteren Polizisten mit viel «Demoerfahrung». Diese Offenheit der Polizei wäre nicht möglich gewesen vor 20 Jahren, ist Berger überzeugt. Er wird für seinen neuen Film unter anderem auch die Ausbildung von Polizisten für den «unfriedlichen Ordnungsdienst» dokumentieren.
So dreht er dank neuster Digitalfilmtechnik mitunter auch als Ein-Mann-Team; am 6. Oktober 2007 bei den Ausschreitungen rund um die Anti-SVP-Demo war er jedoch mit einem professionellen Kleinteam unterwegs. «Am Ende werden es wohl um die 100 Stunden Filmmaterial sein», sagt er. Im Kopf sei er derzeit damit beschäftigt, den Film zu kürzen und zu strukturieren. Das rund zweistündige Resultat werden wir 2009 in den Kinos sehen. (lex)